Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
Anrufe machen, bevor er ihren Namen und eine Adresse hatte. Er wägte das Für und Wider ab, dann entschied er sich dafür, dass es wichtiger sei, ein Leben zu retten, als der Wahrheit sofort Gehör zu verschaffen. Letzteres konnte noch einen Augenblick warten. Also verschob er sein Vorhaben, zur Polizei zu fahren, auf später, rief den Hund zu sich und machte sich auf den Weg mit seinem alten VW-Bus, den er vor kurzem auf einer Auktion für 18 000 Kronen ersteigert hatte, die er gar nicht besaß.
K APITEL 7
»Und Sie haben ihn nicht wegfahren sehen?«
Die Polizistin Anna Bagger wirkte aufrichtig irritiert. Sie hatte etwas Vertrauenerweckendes, aber wahrscheinlich gehörte das zu ihrem Job. Felix schüttelte den Kopf.
»Ich war völlig durchgefroren, als ich nach Hause kam, und habe ein warmes Bad genommen. Er ist wohl gefahren, als ich gerade im Badezimmer war.«
»Und Sie wissen nicht, wo er hinwollte?«
Das klang idiotisch, aber vermutlich musste sie diese Art von Fragen stellen. Das lernten sie so auf der Polizeischule. Mark Bille Hansen, der sie begleitet hatte, bemühte sich um einen sachlichen Gesichtsausdruck.
»Nein, ich kenne ihn doch gar nicht.«
»Wie lange wohnen Sie schon hier?«
»Seit einem Monat.«
»Kann es wirklich sein, dass zwei Menschen, die seit einem Monat in so unmittelbarer Nachbarschaft wohnen, kein Wort miteinander wechseln?«
Formuliert wurde die Frage wie ein Vorwurf, dem widersprachen jedoch der milde Ton und das Lächeln. Anna Bagger ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen und über die Einrichtung gleiten: maritimer Kitsch. Im Fensterrahmen stand ein Modellschiff, an der Wand hing ein Bullauge, Schiffstaue hingen von der Decke und Muscheln lagen auf dem Fensterbrett. Nichts davon hätte Felix sich ausgesucht, sie hatte das Haus möbiliert gemietet.
»Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten.«
»Warum?«
»Warum was?«
Anna Bagger machte eine Handbewegung, die das Haus und die ganze Steilküste miteinbezog.
»Warum wohnen Sie hier? So weit draußen. Was machen Sie hier?«
Felix mochte es nicht, mehrere Fragen auf einmal gestellt zu bekommen. Genau genommen gefiel ihr die Art des Verhörs überhaupt nicht. Und sie mochte es auch nicht, fremde, ungebetene Gäste im Haus zu haben.
»Ich bin krankgeschrieben. Ich wollte meine Ruhe haben.«
»Was arbeiten Sie?«
»Ich bin Geschäftsführerin eines Wellness-Centers in Århus. Kosmetik und Verkauf von Kosmetikprodukten«, fügte sie hinzu. »Wir bieten auch Massagen an.«
Sie fühlte sich beobachtet und gemustert und wusste sehr genau warum. Sie sah nicht aus wie jemand, der sein Geld mit der Pflege von Schönheit verdiente. Das hatte sie schon seit Monaten nicht mehr getan.
»Und das Krankengeld genügt Ihnen zum Leben? Das kann so viel doch nicht sein«, fragte Anna Bagger.
»Ich brauche nicht viel.«
Ihre Finanzen gingen niemanden etwas an, fand sie. Anna Bagger sah sie an, als hätte sie sich noch nicht entschieden, ihr zu glauben. Felix wünschte, Peter Boutrup wäre nicht weggefahren.
»Er hat die Leiche gefunden. Er und der Hund. Ich wollte nur helfen und hatte mein Handy dabei. Das ist schon die ganze Geschichte.«
Anna Bagger bekam einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck.
»Danke. Das wär’s fürs Erste.«
Das klang geistesabwesend, als wäre die Polizistin in Gedanken schon einen Schritt weiter in den Ermittlungen. Sie schüttelte ihr die Hand und verließ dann das Haus, gefolgt von dem Dorfpolizisten, der alles andere als dörflich aussah. Sie hörte einen Automotor anspringen, der Rettungswagenmachte sich ebenfalls auf den Weg. Auch Anna Bagger und ihr Gefolge stiegen in ihre Wagen und kurz darauf waren sie nur noch kleine schwarze Punkte, die auf der Landstraße Richtung Århus fuhren.
Felix schloss die Tür zu ihrem Geheimzimmer auf. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie zitterte am ganzen Körper, wie im Fieber. Sie hätte zu Hause bleiben sollen. Warum war sie nur spazieren gegangen und ausgerechnet an die Steilküste?
Ihre Beine gaben plötzlich nach und sie musste sich auf den Bürostuhl setzen. Als sich der Raum endlich nicht mehr um sie drehte, betrachtete sie die Wände, die gepflastert waren mit Zeitungsausschnitten, Fotos, Visitenkarten und Notizzetteln.
Es gab die Überlebenden. Und es gab die Toten. Sie gehörte zu den Überlebenden. Alles dazwischen – die Lebenden – war für sie verborgen, das ließ ihr Leben nicht zu. Warum das so sein musste, wusste sie nicht
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