Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
Kurzatmigkeit.
»Das kann man so sagen, schließlich bin ich hier geboren«, antwortete er.
Sie drehte sich um und begutachtete den Schauplatz. Niemand konnte wie sie in wenigen Sekunden das große Ganze und die wichtigen Details mit einem Blick einfangen: das graue Meer, die verschneite und vereiste Steilküste, die Leiche auf den dunklen Steinen am Strand, die vom Wasser glatt gerieben worden waren, und in einigen Metern Entfernung die beiden Nachbarn mit dem Hund, die den Fund gemeldet hatten. Ihr Blick konzentrierte sich für einen Augenblick auf das Schussloch zwischen den Schultern des Toten, bevor sie sich zu Mark wandte und an einem Punkt zwischen seinen Augen hängen blieb. Vielleicht war sie doch erschütterter, als sie es sich eingestehen wollte.
»Ich wusste gar nicht, dass du so heimatverbunden bist«, erwiderte sie spitz. »Darf ich dir meinen Kollegen aus der Mordkommission vorstellen, Martin Nielsen.«
Mark schüttelte eine weitere Hand, während die Erleichterung seinen Körper durchflutete. Sie wusste also nichts. Wahrscheinlich hatte sie mit ihren Sachen genug zu tun und er war ihr gleichgültig gewesen, was ihm gerade ganz gelegen kam. Sie würde es selbstverständlich früher oder später erfahren, aber das Gespräch wollte er lieber auf ein anderes Mal vertagen.
»Tja, hier auf Djursland geht die Post ab!«, sagte sie und pustete sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
Wieder stieg eine kleine Wolke von ihren Lippen auf und er erinnerte sich, wie sie immer geraucht hatte, mit leicht vorgeschobener Unterlippe. Das hatte damals starke Gefühle in ihm hervorgerufen, er wusste eigentlich gar nicht weshalb. Aber vielleicht war es diese Kombination aus dem Femininen – ihre akkurat gezupften Augenbrauen, die sich zusammenzogen, während sich ihre Augenlider genussvoll schlossen – und dem Maskulinen, Seemannartigen in der Bewegung der Lippen. Jetzt aber löste das nichts mehr in ihm aus, wie so vieles andere auch nicht mehr.
»Du meinst das verschwundene Mädchen und der Tote hier? Ja, hier ist echt was los!«, stimmte er ihr zu.
Sie nickte und ging dann an der Leiche vorbei zu den zwei Zeugen, die den Toten gefunden hatten. Sie stellte ihre Fragen mit ruhiger und freundlicher Stimme, aber Mark wusste genau, dass sie die beiden scannte, mit fotografischer Genauigkeit in Augenschein nahm und in ihrem Gehirn bereits die verschiedenen Kombinationen von Motiv, Gelegenheit und Alibi überprüft wurden. Sie war sehr gut darin. Und das war auch ihr Motor, sehr gut zu sein. Oben an der Kante der Klippe tauchten immer mehr Fahrzeuge auf und die Kriminaltechniker in weißen Overalls rutschten den Abhang hinunter. Polizeibeamte und Rechtsmediziner folgten ihnen. Anna Bagger beendete ihre Befragung.
»Sie haben diesen Mann also vorher noch nie gesehen?«
Sowohl der Mann mit dem Hund als auch die Frau verneinten. Sie war sehr dünn und sah ungewöhnlich blass aus, fast durchsichtig. Erst da wurde Anna Bagger klar, dass die beiden fast anderthalb Stunden in klirrender Kälte am Strand gewartet hatten.
»Sie können jetzt nach Hause gehen. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung, ein Kollege wird vorbeikommen und ihre Aussagen aufnehmen.«
Mark sah ihnen hinterher, als sie sich mit dem Hund den Abhang hochkämpften. Jedes Mal, wenn der Mann der Frau helfen wollte, tat sie, als hätte sie sein Angebot nicht bemerkt.
K APITEL 6
Peter streckte ihr die Hand entgegen, aber sie nahm sie nicht. Deutlich sah er ihre Anstrengung und Verbissenheit, als sie den Hang an seiner steilsten Stelle hinaufkletterte. Plötzlich blieb sie stehen und schwankte, doch dann mobilisierte sie ihre Kräfte und bezwang das letzte Stück des Weges. Sie benötigte dringend Hilfe, davon war er überzeugt. In erster Linie von einem Arzt, aber auch psychologische Hilfe. Er hatte den Eindruck, dass auch ihre Seele zerbrochen war; ein Zustand, den er nur allzu gut kannte.
Bevor sie sich voneinander verabschiedeten, stand sie einen Augenblick still da und sah ihn prüfend an, während sie Kaj am Kopf streichelte, der das sichtlich genoss.
»Warum haben Sie gelogen?«, fragte sie ihn. »Warum haben Sie nicht zugegeben, dass Sie ihn kennen?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich gelogen habe?«
Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn von unten an. Sie war sehr klein.
»Ich kenne Lügen.«
»Sie kennen sie?«
Er musste unwillkürlich lächeln und musste an Manfreds Dackel King denken, der auch von sich dachte, er sei
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