Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
und wollte es auch nicht wissen. Ihr Nachbar war auch ein Überlebender. Das hatte sie in seinen Augen gesehen.
Sie zog das Handy aus der Jackentasche. Sie hatte es dem Toten aus seiner Tasche genommen, während dieser Peter die Polizisten empfangen hatte.
Sie drehte und wendete das Telefon in ihrer Hand, konnte sich aber nicht überwinden, das Menü zu öffnen, obwohl das Gerät eingeschaltet war. Wie sich Menschen doch ändern konnten. Sie hatte noch nie zuvor in ihrem Leben etwas gestohlen und jetzt saß sie mit dem Handy eines Toten da. Das gehörte vielleicht auch zum Überleben dazu: Man befand sich in einem gefühllosen Zombieland. Dort existierten andere Regeln. Ob das auch für Peter Boutrup galt?
Sie verließ das Zimmer wieder und schloss hinter sich ab.Das Handy legte sie in eine Küchenschublade. Auf dem Weg zum Sofa musste sie innehalten und sich auf die Lehne eines Stuhls stützen. Sie war so müde. Aber nicht müde genug, um nicht darüber nachzudenken, was Peter wohl über lebt hatte.
K APITEL 8
Stingers Schwester, Elisabeth Stevns, hatte seit ihrer letzten Begegnung – vorsichtig formuliert – einiges an Gewicht gewonnen. Fett quoll aus dem Bund ihres grauen Jogginganzugs, dessen Oberteil zu kurz und die Hose zu eng saß. Ihr blondes Haar, das im Ansatz dunkel nachwuchs, trug sie in einem wilden Knoten auf dem Kopf. Wenn sie sich bückte, leuchtete einem ihr Tattoo auf ihrem Kreuzbein entgegen: ein fast psychedelisches Muster nur wenige Zentimeter über ihrer Gesäßfalte, auf die man ebenfalls freie Sicht hatte. Aber sie hatte ein schönes Gesicht und ihr Lächeln war freundlich und hatte Nachsicht mit den Unwägbarkeiten des Lebens, inklusive eines untragbaren Bruders mit krimineller Vergangenheit und Zukunft.
»Hier, bitte! Nimm ruhig alles! Mit dem bin ich fertig! Er kann bei dir wohnen, oder?«
Sie klaubte Stingers Habseligkeiten zusammen, die in der gesamten Wohnung in der Teglværksgade in Århus verteilt waren. T-Shirts, dreckige Unterhosen, Jogginghosen, Gürtel, ein paar Pornoheftchen und eine Packung Tabak. Schließlich wurde alles in eine gelbe Nettotüte gestopft und dann Peter in die Arme gedrückt.
Sie schnaufte vor Anstrengung und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Auf dem Couchtisch lag eine Tüte Chips und eine zur Hälfte aufgegessene Dose Matadormix von Haribo. Sie griff in die Chipstüte und kaute geräuschvoll.
»Ich habe echt getan, was ich konnte. Zwei Monate lang! Und keine Øre habe ich gesehen. Und dann bekommt er Geld in die Finger und zack, weg ist er. Kommt nur kurz zum Duschen vorbei.«
Peter vermutete stark, dass das ›Geld in die Finger‹ die 500 Kronen waren, die er ihm zusammen mit der Jacke, der Mütze und den Handschuhen gegeben hatte.
»Und wo ist er jetzt?«
»Na, was glaubst du?«
Sie sah ihn mit einem wissenden Nicken an.
»Anholtsgade? Miriam und Lulu?«
Ein Lächeln spielte um ihre Augen. Sie schüttelte den Kopf über ihren unmöglichen großen Bruder und nahm Peter die Nettotüte wieder ab.
»Das ist bestimmt nicht der dümmste Vorschlag.«
Die Finanzkrise hatte überall Spuren hinterlassen und Lulus Halbtagsjob in der Massageklinik war auf einen Tag in der Woche reduziert worden, weil die Leute zu wenig Geld zur Verfügung hatten. An den anderen Tagen führte sie zusammen mit Miriam das Bordell in der Anholtsgade. Sie waren zu zweit, um ihre Kunden zu bedienen, aber sie – die Kunden – lagen weder auf der Straße noch im Treppenhaus und warteten auf sie.
»Es ist nicht so, dass sie hier Schlange stehen würden«, sagte Miriam, als sie ihm öffnete. »Vielleicht müssen wir uns doch umsehen und die Branche wechseln.«
Peter gab ihr einen Kuss in den Mundwinkel, rot und scharf umrandet waren ihre Lippen, aber sie konnte ganz weich küssen, wenn sie wollte.
»Frohes Neues! Ihr beide würdet euch großartig machen als Krankenschwestern oder Zimmermädchen.«
Miriam schnitt eine Grimasse.
»Ich suche Stinger. Du weißt schon, der Tätowierer.«
Miriam rieb sich mit dem Zeigefinger am Mundwinkel, damit der Lippenstift richtig saß.
»Er ist bei Lulu in der Klinik. Sie kommen später zusammen nach Hause.«
Sie begutachtete ihn kritisch.
»Müde siehst du aus. Bleib doch, ich mache Hühnchen.«
Sie zog ihn in die Wohnung und er entspannte sich in dieser Sekunde, als hätte ihm jemand einen schweren Rucksack abgenommen. So war das immer mit Miriam, die seit Jahren seine gelegentliche Partnerin im Bett war, obwohl die
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