Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
Fähigkeit. Er hatte sich geschämt und sich zurückgezogen. Am Tag nach der Diagnose hatte sie mit einer Kaltherzigkeit mit ihm Schluss gemacht, die ihn aber nicht mehr berührt hatte. Weil ihn gar nichts mehr berührte.
»Mark Bille Hansen«, rief die Schwester und hielt die Tür des Sprechzimmers auf.
Eine Viertelstunde später fuhr er zurück nach Grenå und ging ohne Umschweife in Anna Baggers improvisiertes Büro, wo sie vor dem Computer saß und telefonierte.
Mark ignorierte, dass sie im Gespräch war.
»Die Frau aus dem Hafenbecken heißt Tora«, platzte er heraus. »Bis vor einem Monat war sie zusammen mit zwei anderen hier in der Stadt und hat sich im Prostituiertenmilieu herumgetrieben.«
Anna Bagger beendete ihr Telefonat.
»Woher weißt du das?«
»Passt das auf eine der Vermisstenanzeigen?«
Sie nickte, während ihre Finger wie Kastagnetten auf der Tastatur klickerten.
»Ein Ehepaar von der Insel Mors hat sich gemeldet. Sie hatten seit einer Woche keinen E-Mail-Kontakt mehr zu ihrer 18-jährigen Tochter. Sie heißt Tora.«
Sie drehte ihren Laptop so, dass Mark ihr über die Schulter sehen konnte.
»Sie dachten, sie würde bei einer Freundin in Århus wohnen, aber es stellte sich leider heraus, dass sie ihre Eltern systematisch belogen hat. Sie hat ihnen ein halbes Jahr lang falsche Mails und Fotos von sich und dieser Freundin geschickt.«
Auf dem Monitor erschien das Foto eines jungen, blonden Mädchens. Sie sah hübsch aus, fand Mark, ähnelte aber einem dänischen Durchschnittsteenager: blaue Augen, gerade Nase, volle Lippen, regelmäßige Züge. Ein kleines Muttermal auf der linken Wange schien das einzige besondere Merkmal zu sein.
»Und wo hat sie sich in dieser Zeit tatsächlich aufgehalten? Ein halbes Jahr lang?«
Anna Bagger zog die Schultern hoch.
»Wer weiß das schon. Die Freundin hat auf jeden Fall keinen Schimmer. Sie haben sich nur ein paarmal in einem Café getroffen. Es kam ihr dabei merkwürdig vor, dass Tora diese Begegnungen immer mit der Kamera festhalten wollte. So gute Freundinnen waren sie nämlich nicht.«
»Und das Branding? Gibt es da was Neues?«
»Nichts.«
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.
»Du siehst blass aus. Bist du krank?«, fragte sie.
Zuerst nickte er, dann aber schüttelte er schnell den Kopf. Es war sowieso egal.
»Wir haben es hier also mit einem Mädchen zu tun, die ein halbes Jahr lang quasi untergetaucht ist. Es gab Lebenszeichen in Form von falschen E-Mails und Fotos, aber niemandweiß genau, wo sie sich aufgehalten und was sie in dieser Zeit gemacht hat?«
Anna Bagger legte ihre Hände flach auf den Schreibtisch.
»Ganz genau.«
K APITEL 39
Unter Peters Stiefeln splitterte das Eis.
Die Fischkutter lagen in Reih und Glied an der Mole. Der Tag war glasklar und sonnig, das Meer sah aus, als wäre es aus bläulichem Silber. Der Schnee funkelte in allen Farben.
Schwere Taue verbanden die Boote mit den Pollern, und über Deck drehten hoffnungsvolle Möwen schreiend ihre Runden. Ansonsten herrschte Stille.
Die Strickmütze tief ins Gesicht gezogen, lief Peter bis ans Ende der Mole. Von dort konnte er den leeren Fähranleger und die niedrigen, grauen Gebäude der Fischfabrik sehen, in der Nähe des Schiffsfriedhofs, wo die ausgedienten Schiffe verschrottet wurden.
Ein Fischer in Islandpullover und Gummianzug stand an Deck eines Kutters und stapelte Fischkisten übereinander. Peter hob zum Gruß zwei Finger an die Mütze.
Der Fischer nickte mit dem Kopf zur Hafenausfahrt, wo die Taucher noch mit der Suche beschäftigt waren. Alle in der Stadt wussten, dass es nicht Nina Bjerres Leiche war, die im Hafenbecken gefunden worden war.
»Ob sie heute noch was finden?«
»Ist zu hoffen«, antwortete Peter.
»Kanntest du sie?«
»Mein Chef kannte sie.«
Der Fischer schüttelte fassungslos den Kopf.
»Im Moment verspürt man keine Lust, die Netze einzuholen!«
Das konnte Peter sehr gut verstehen, denn es verfingen sich nicht nur Fische in den Netzen.
Als hätte er Peters Gedanken gelesen, fuhr er fort:
»Da verfängt sich einiges, alte Minen und Müll und Dreck, wenn man Glück hat!«
Er rieb sich mit der Rückseite seines Handschuhs die Nase.
»Auch Wrackteile?«, fragte Peter und dachte dabei an Fischer-Brians Boot.
»Nee, da fahren wir außen rum. Die meisten sind ja auch in die Seekarten eingetragen, zumindest was die Fahrzeuge von der Berufsschifffahrt angeht.«
»Aber dazu gehört nicht ein einfaches Motorboot,
Weitere Kostenlose Bücher