Eiskalt Wie Die Suende
Insel namens Deer Island, in dem ganz viele Leute leben.â Ein Haus für Arme, für Waisen und Verrückte, für die Kranken und Gescheiterten â ganz ähnlich wie es das Armenhaus von Barnstable County gewesen war, wo Nell einen GroÃteil ihrer meist wenig erfreulichen Jugend verbracht hatte.
âAuf einer Insel?â, fragte Gracie und sprang dabei auf und ab, wie sie es immer tat, wenn sie ganz aufgeregt war. âKönnen wir da auch leben, wenn du und Onkel Will geheiratet habt?â
âTja â¦â
Nells vermeintliche Verlobung mit William, dem ältesten Sohn der Hewitts, war indes reine Fassade â eine kleine, schickliche Lüge, die es ihm ermöglichen sollte, Zeit mit ihr und Gracie zu verbringen, ohne dass es gleich zu allerlei ungehörigen Gerüchten führen würde. Will hatte ihr diese Taktik letzten Sommer vorgeschlagen, um MutmaÃungen aus der Welt zu schaffen, dass Nell, die tadellos tugendhafte Gouvernante, ein heimliches Verhältnis mit William Hewitt unterhalte â dem berüchtigten Glücksspieler, ehemals Arzt und seit jeher das schwarze Schaf der Familie. Galten sie hingegen als inoffiziell verlobt, so Wills Ãberlegung, würde niemand ihre Freundschaft infrage stellen.
Allerdings war es eine Freundschaft, aus der nie mehr würde werden können, da Miss Nell Sweeney schon verheiratet war, und zwar mit einem Insassen des Staatsgefängnisses in Charlestown. Duncan, den sie seit nun zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte, hatte gerade die ersten zehn Jahre einer dreiÃigjährigen Haftstrafe abgesessen, die er sich mit einem bewaffneten Raubüberfall und damit einhergehender schwerer Körperverletzung eingehandelt hatte. Niemand in Boston wusste über ihn oder den Rest von Nells fragwürdiger Vergangenheit Bescheid, auÃer Will und Pater Gorman von St. Stephen, der ihr Beichtvater war. Und die beiden waren auch die Einzigen, die jemals davon wissen durften, denn sonst wäre es aus mit dem wunderbaren, sorglosen Leben, das sie so zu schätzen gelernt hatte. Ganz abgesehen davon, dass sie dann auch das Kind verlieren würde, das sie liebte, als wäre es das ihre, und dieser Gedanke war ihr unerträglich.
Besagtes Kind schaute sie nun mit groÃen unschuldigen Augen an und wartete darauf zu erfahren, ob es eines Tages dem Paar, das es lange schon insgeheim als seine Ersatzeltern betrachtete, eine richtige Tochter sein könnte. Es war eine Frage, die Gracie ihnen schon einige Male gestellt hatte, seit sie erfahren hatte â zweifelsohne dank der gedankenlosen Bemerkungen der Dienstboten â, dass Nell und Will wohl heiraten würden. Der Wunsch, die Familie solle dann zusammen ins Armenhaus, das groÃe Haus auf der Insel ziehen, war indes neu.
âWir können aber nicht im Arbeitshaus wohnen, Butterblümchenâ, erwiderte ihr Nell und umschiffte damit geschickt die eigentliche Frage. âDort leben nur Leute, die gar kein eigenes Zuhause haben. Und du bist doch hier bei deiner Nana zu Hause.â
âAber Nanas Beine können doch nicht mehr laufen! Deshalb braucht sie dich, und du darfst nicht einfach weggehen.â Clancy fest an ihre Brust gedrückt, schaute die Kleine mit einem Blick so tiefer Ergriffenheit zu Nell auf, dass sie einer Schauspielerin in einem Melodrama alle Ehre gemacht hätte. âUnd ich brauche dich auch, Miss Sweeney. Wer kümmert sich denn um mich, wenn du nicht mehr da bist?â
âWie wäre es denn mit Miss Tierney?â, schlug Nell vor.
âJa, genau, wie wäre es denn mit mir?â, fragte Eileen mit gespielter Strenge und zog Gracie an einem ihrer Zöpfe.
âSie könnte dann doch auch mitkommen, oder? Bitte, Miss Sweeney!â, bettelte das Kind und drückte den armen Hund noch fester an sich. âBitte!â
Nell hockte sich hin, damit sie mit Gracie auf Augenhöhe war, und sagte ihr, was sie ihr bei dieser Gelegenheit immer zu sagen pflegte. âVerlobungen können sehr, sehr lange dauern, mein Schatz. Es können noch Jahre vergehen, ehe Onkel Will und ich heiraten.â
âAber wenn ihr heiratet, dann kann ich â¦â
âDas sehen wir dann, wenn es so weit ist.â
âAber â¦â
âIch habe jetzt keine Zeit, das ausführlicher mit dir zu besprechen.â Nell gab Gracie einen Kuss auf die Stirn und meinte: âUnten wartet doch ein Polizist, der mich sprechen will,
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