Eiskalte Berührung - Cole, K: Eiskalte Berührung
ziemlich gleichgültig, dass Ivo, ihr Kerkermeister und Folterknecht, kurz davor stand, von diesem Kriegsherrn mit seinen verbotenen modernen Waffen den Arsch aufgerissen zu bekommen. An ihrer Lage würde sich nichts ändern, denn auch diese Rebellen – gewandelte Menschen, die unter dem Namen Devianten bekannt waren – waren immer noch Vampire. Ein Blutfeind ist ein Blutfeind ist ein Blutfeind …
Eine Explosion erschütterte die Burg, und von der Decke in Mysts Zelle rieselten Funken und Staub herunter. Die niederen Kreaturen in den feuchtkalten Kammern am Ende des Korridors heulten vor ohnmächtiger Wut, ein Spektakel, das sich mit jeder neuen Explosion noch steigerte, bis es … vorbei war. Hier und da noch ein Nachbeben, ein gedämpftes Wimmern …
Die Verteidigung der Burg war zusammengebrochen, existierte nicht mehr. Ihre Bewohner waren verschwunden, indem sie ihre Fähigkeit zur Translokation – so wurde Teleportation in der Mythenwelt genannt – eingesetzt hatten. Sie hinterließen nicht mehr als einen leichten Luftzug und die verbrannten Aufzeichnungen ihrer Horde.
Sie konnte die Rebellen hören, die die Burg jetzt bis in die tiefsten Tiefen durchsuchten, aber sie hätte ihnen gleich sagen können, dass sie nicht einen ihrer Feinde auffinden würden. Die Burgbewohner gehörten nicht zu der Sorte »Kämpf bis zum Tod«, sondern eher zum Typ »Wer kämpft und davonläuft, bleibt am Leben, um auch am nächsten Tag noch davonlaufen zu können«.
Kurze Zeit später vernahm sie das Geräusch schwerer Stiefel auf dem Steinboden des Kerkers, und sie wusste, dass es der Kriegsherr war. Er kam auf direktem Weg auf ihre Zelle zu und blieb davor stehen.
Von ihrem Hochsitz, im Fenster zusammengekauert, studierte sie den Vampir aus der Nähe. Er hatte dichtes, glattes schwarzes Haar, das ihm in ungleichen Strähnen ins Gesicht hing. Zweifellos hatte er es vor einigen Monaten mit seiner Klinge abgeschnitten und seitdem nicht mehr daran gedacht, es nachzuschneiden. Einen Teil dieser Strähnen hatte er sich mithilfe einiger dünner, wirrer Flechten aus dem Gesicht gebunden, wie sie die Berserker zu tragen pflegten. Seine Hände wiesen Narben auf, und sein gewaltiger Körper war kräftig und muskulös. Am liebsten hätte sie geschnurrt, denn wer auch immer hier das Drehbuch schrieb, er hatte ihr den perfekten maskulinen Kriegsherrn gesandt.
»Komm von dort herunter und zeige dich.« Tiefe Stimme. Russischer Akzent, vermögend, aristokratisch.
»Sonst … ? Wirst du mich in deinen Kerker werfen lassen?«
»Vielleicht werde ich dich freilassen.«
Sie stand an den Gittern, noch ehe er Zeit gehabt hatte, den Blick vom Fenster herabzusenken. Hatte sich da etwa seine Kinnlade ein kleines bisschen herabgesenkt? Sie horchte auf eine Beschleunigung seines Herzschlags, wurde allerdings enttäuscht, da sein Herz überhaupt nicht schlug. Dann war der Vampir also Single? Seine Augen zeigten nicht jenen roten Dunstschleier, der bei anderen Vampiren das Kennzeichen ihrer Blutgier darstellte, was bedeutete, dass er noch niemals ein Lebewesen bis zum Tode ausgesaugt hatte. Aber schließlich verzichtete er als Deviant grundsätzlich darauf, Blut auf direktem Wege aus dem Fleisch zu sich zu nehmen.
Als er ihr Gesicht aus der Nähe sah, war der Schlüssel zwar nicht sogleich im Schloss, wie es für gewöhnlich der Fall war, doch seine Lippen teilten sich, sodass sie seine Fänge sehen konnte. Selbstverständlich waren sie sexy – nicht zu auffällig, nicht mal sehr viel länger als die Eckzähne eines Menschen.
Als sie die herrliche kurze Narbe sah, die sich über seine beiden Lippen zog, schlug draußen vor der Burg der Blitz ein, doch er zuckte weder zusammen noch blickte er auch nur auf. Er war zu sehr damit beschäftigt, sie anzustarren.
Narben – oder besser gesagt jeder äußerliche Hinweis auf Schmerz – zogen Myst an. Aus Schmerz wurde Stärke geschmiedet. Stärke erzeugte Elektrizität. Und der da konnte sie ihr geben.
Möglicherweise verbarg er unter einer dieser dicken Strähnen sogar noch ein fehlendes Auge.
Sie erstickte ein kehliges Knurren, als ihre Hand hervorschoss, um ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Aber er war schnell und erwischte ihr Handgelenk. In einer bittenden Geste krümmte sie einen Finger, und nach einem kurzen Moment ließ er sie los und gestattete ihr, die Bewegung zu vollenden. Als sie ihm das Haar zurückstrich, trat ein kantiges, maskulines Gesicht zutage, das vom Schmutz und der
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