EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
etwas zwischen ihnen, ein merkwürdiges Gefühl, das sie bisher ignoriert hatte. Es war eher ein nicht zu erklärender Eindruck gewesen, der sich bei ihr einnistete, wenn sie Max und Anna zusammen sah. Beim Anblick ihrer Liebe empfand sie sowohl Freude als auch ein gewisses Unbehagen. Aber weshalb, fragte sie sich. Vielleicht weil Annas Ängste zugenommen hatten, seit sie Max erneut in München begegnet war?
Sie erinnerte sich an den gemeinsamen Theaterbesuch, bei dem sich die beiden zufällig wiedergetroffen hatten.
Das Stück hatte Anna gefallen. Sie war überwältigt gewesen von der Inszenierung und den schauspielerischen Leistungen des Ensembles. Die weibliche Hauptrolle war von einer jungen Frau gespielt worden, die Mathilda ähnelte und die – wie auch Mathilda es manchmal tat – versucht hatte, gequälte Seelen zu retten.
In der Pause diskutierten sie an der Bar angeregt über die einzelnen Szenen. Plötzlich winkte Mathilda aufgeregt zu einem Mann hinüber. Als sie seinen Namen rief und Max auf sie zukam, zitterte Anna am ganzen Körper.
Max tat ihr gut. Es hatte wohl so sein müssen, dass sie ihm nach dem Tod ihrer Großmutter erneut begegnete und ihn und seine Familie kennenlernte.
Zwei Monate später war Max mit Anna nach Rom gereist. Nach ihrer Rückkehr hatte sie begeistert von ihrem ersten Treffen mit seinen Eltern und dem Wiedersehen mit Charlotta berichtet und dass sie über beide Ohren in diesen Mann verliebt war.
Mathilda stand auf und wippte einen Moment auf den Zehen. Sie öffnete die Küchentür, ging nach draußen und atmete die kalte Luft ein. Es war zu kalt und zu windig, sie kehrte in die warme Küche zurück und fuhr sich mit den Händen durchs zerzauste Haar. Sie ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und streckte die Beine aus. Benedikt van Cleef hatte sich seit Tagen nicht mehr bei ihr gemeldet, und sie kam sich verloren vor. Sie wollte gleich ein entspannendes heißes Bad nehmen, stattdessen fiel sie erschöpft in einen traumlosen Schlaf.
***
Gegen zehn Uhr des darauffolgenden Tages spielten im Zimmer Nummer vier der Elektrokardiograph und der Pulsoximeter mit tanzenden Kurven verrückt.
Der Schrei explodierte in ihrem Kopf. Sie kämpfte gegen die Versuchung an, wieder in Bewusstlosigkeit zu versinken, und rang sich dazu durch, die Lider zu heben. Zuerst sah sie nur verwischtes grelles Licht und Farben, so scharf, dass ihr ein Stich von den Augen bis ins Gehirn fuhr. Allmählich schälten sich Gesichter heraus. Fremde Menschen in Blau, die auf sie herabblickten.
Anna blinzelte. Sie spürte, dass jemand eine Hand auf ihre Stirn legte, und schreckte hoch. Ihr wurde schwindelig.
Eine warme männliche Stimme sagte: „Ruhig, ganz ruhig, Frau Wendel. Diazepam, fünf Milligramm, Schwester.“
Jemand berührte ihren Arm.
„Nein! Nur fünf Milligramm“, sagte die warme, sanfte Stimme.
Anna öffnete die Augen.
„Ganz ruhig, Frau Wendel, ganz ruhig.“
Verwirrt blickte sie um sich. Der Mann in dem weißen Kittel leuchtete mit einer kleinen Lampe in ihre Augen.
„Sie hatten einen Alptraum. Lassen Sie los. Ganz gleich, was es war, lassen Sie los“, sagte er leise.
Sie schaute verwirrt auf die Schläuche, die an ihren Armen befestigt und mit diversen Flaschen oberhalb des Betts verbunden waren.
„Wo bin ich?“
„Sie sind im Kreiskrankenhaus Bogenhausen. Mein Name ist Jörg Kreiler. Ich bin der Chefarzt der Neurochirurgie und freue mich, Sie wieder bei uns zu haben.“
Anna versuchte, den Arzt an ihrem Bett klar zu erkennen, doch ihr Kopf rebellierte.
Er blätterte in einer Krankenakte. „Sie wurden vor vierzehn Tagen hier eingeliefert. Erinnern Sie sich nicht mehr?“
Anna schaute ihn unsicher an.
„Ist schon in Ordnung“, beruhigte der Arzt. „Das ist völlig normal nach einem solchen Trauma.“
Anna schloss die Augen. „Was ist passiert?“
Erneut blätterte er in der Akte. „Die Sanitäter wurden kurz nach Mitternacht gerufen. Man fand Sie in Ihrem Haus. Sie hatten schwere Verletzungen am Brustkorb …“
Sie sah ihn flehend an.
„Ihr Herz hat fast zwei Minuten aufgehört zu schlagen.“
Anna blickte entsetzt.
„Nein, nein! Alles ist gut. Sie wurden wiederbelebt. Wir haben sie zurückgeholt. Unsere Internisten und auch meine chirurgischen Kollegen sind Meister ihres Fachs. Sie sind so gut wie neu. Na ja, fast. Und Sie liegen auf meiner Station, weil sie vierzehn Tage komatös waren.“ Jörg Kreiler nahm einen Stuhl und setzte sich an ihr
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