Eiskalte Verfuehrung
Eigentlich wusste sie nicht, weshalb sie immer wieder herkam, aber sie schaffte alljährlich mindestens einen Aufenthalt. Lolly wünschte, sie könnte es sich leisten, das Haus zu behalten, in dem sie aufgewachsen war, aber Wilson Creek bot nicht gerade viele berufliche Möglichkeiten, und sie hatte nicht das Geld, ein eigenes kleines Unternehmen zu gründen.
Die Scheibenwischer fuhren hin und her, um dem Regen zu trotzen, der jetzt wie so oft mit gleichbleibender Intensität vom Himmel fiel. Dieser gnadenlose andauernde Regen hatte etwas Nervtötendes, als würde Mutter Natur damit beweisen wollen, dass gar kein dramatisches Ereignis vonnöten war, um ein zivilisiertes Fleckchen Erde mürbe zu machen. Dazu war nur dieser Regen erforderlich. Lolly fühlte, wie ihr ein eisiger Schauer den Rücken hinaufkroch. Obwohl bis zum Einbruch der Nacht noch Stunden Zeit war, wurde es immer düsterer, und sie musste die Scheinwerfer einschalten. Sie war keinem Auto begegnet, seit sie vom Parkplatz des Gemischtwarenladens in die große Straße eingebogen war, die aus dem Ort hinausführte, und schon das war irgendwie gespenstisch. Einen Augenblick verspürte sie den Drang umzukehren, in der Stadt ein Schlafshirt, eine Zahnbürste und Unterwäsche zu kaufen und schleunigst zu den Richards zu fahren – in die Sicherheit.
Dann bemerkte sie hinter sich verschwommen ein Fahrzeug; es war zu weit weg, um Einzelheiten erkennen zu können, aber allein die Gewissheit, dass sie nicht allein auf der Straße war, reichte schon aus, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie wollte sich eine Viertelstunde Zeit nehmen, um alles zusammenzusammeln, was sie brauchte, nicht mehr, und dann zurück in die Stadt fahren. Somit müsste sie eine gute Weile vor dem Eissturm ankommen, sicher und wohlbehalten.
Ein paar Minuten später bog Lolly von der Hauptstraße ab und steuerte ihren Wagen vorsichtig über die schmalere Straße, die sich den Berg zu ihrem Haus hinaufschlängelte. Sie kannte noch immer jede Kurve, jeden Baum und jeden Stein hier, weil sie, nachdem sie den Führerschein gemacht hatte, so oft hier entlanggefahren war. Vorher hatte ihre Mutter sie jeden Tag mit dem Auto zur Schule gebracht und am Nachmittag wieder abgeholt, sie war also fast ihr ganzes Leben lang mindestens zweimal pro Tag diesen Berg hinauf- und hinuntergefahren. Die Straße barg keine Überraschungen, keine Ängste für sie. Es lag am Wetter, dass sie sich so unsicher fühlte.
Lollys souveräner SUV , den sie drei Jahre zuvor gebraucht gekauft hatte, weil sie ein zuverlässiges Auto mit Vierradantrieb benötigte, fuhr kontinuierlich bergauf. Die Sicht nahm ab, denn der Regen wurde stärker. Sie warf einen kurzen Blick auf die Temperaturanzeige – die Außentemperatur lag bloß ein oder zwei Grad über dem Gefrierpunkt. Die Bäume waren von einer leicht silbrigen Schicht bedeckt. Ob sich schon Eis bildete?
Dann bog Lolly in die Zufahrt ein und nahm den langen Hang bis zu ihrem Zuhause mit Vollgas. Mein Zuhause ist das wohl nicht mehr lange, ging es ihr durch den Kopf, aber in dem Moment wirkte das Haus einladend und irgendwie genau richtig für sie. Es war nicht so wichtig, dass es schon fast sechzig Jahre alt war und ein bisschen heruntergekommen, es war noch immer groß und massiv und bot an einem Winterabend ein warmes, sicheres Refugium. Zu schade, dass sie nicht bleiben konnte, aber wenn man an diesem Ort vom Eis überrascht würde, dann konnte es ein paar Wochen dauern, bis man diesen Berg wieder herunterkam, je nachdem wie schlimm die Schäden waren und wie viele Bäume umgestürzt waren.
Sosehr Lolly dieses Haus auch liebte, wusste sie doch, dass es an der Zeit war, es wieder das Zuhause einer Familie werden zu lassen – wie es damals das ihre gewesen war. Sobald ihre letzten paar Habseligkeiten weggepackt waren, verkauft oder eingelagert, würde das Heim ihrer Kindheit auf den Markt kommen, und ihr würde es dann jedenfalls nicht mehr gehören. Zu schade, dass ihr nicht mehr die paar Tage Zeit blieben, um ihren kleinen Ausflug in die Vergangenheit zu unternehmen, wie sie es sich gewünscht hatte, aber das Wetter hatte eben andere Pläne.
Lolly machte sich nicht die Mühe, den Mercedes in der freistehenden Garage zu parken, sondern fuhr nah an den Vordereingang heran. Die Schlüssel in der Hand eilte sie die Stufen hinauf und sperrte die Eingangstür auf. Sobald sie drinnen war, legte sie ihren schweren Wintermantel ab, warf ihn über den Treppenpfosten und legte
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