Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eiskalte Versuche

Eiskalte Versuche

Titel: Eiskalte Versuche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: McCall Dinah
Vom Netzwerk:
verließ, war sein Gang schleppend.
    Es war fast dunkel. Die Sonne war untergegangen und hinter dem Horizont verschwunden. Von der Terrasse von Abbott House aus sah man nur die Silhouette des White Mountain. Sie zeichnete sich scharf gegen den schwarzblauen Himmel ab. Alle anderen Konturen schienen von der hereinbrechenden Nacht verschluckt.
    Isabella schlang die Arme um den Oberkörper und fröstelte, als die Abendluft ihren Nacken streifte. Sie trug eine Hose aus Wollstoff und einen dicken Norwegerpullover. Trotzdem spürte sie, wie die Kälte durch ihre Kleidung drang.
    Hinter ihr im Speisesaal wurde das Dinner serviert. Aus den Nachbarorten kamen oft Gäste nach Abbott House, wegen des guten Essens und um eine stilvolle Umgebung zu genießen. Wäre nicht der Computer am Empfang und hörte man nicht gelegentlich, wie das Handy eines Gastes klingelte, hätte man glauben können, in eine frühere Epoche zurückversetzt zu sein. Samuel Abbott hatte seine Liebe zur unaufdringlichen Eleganz der Alten Welt auf sein Hotel und auf seine einzige Tochter übertragen. Isabella mochte die neueste Mode tragen, doch besaß sie eine Zurückhaltung und strahlte eine ruhige Würde aus, die den meisten jungen Frauen ihres Alters fehlte. Man hätte glauben können, sie wäre eine Generation zu spät geboren.
    Sie fuhr mit der Zunge prüfend über die Platzwunde an ihrer Unterlippe. Dabei fragte sie sich, wie Bobby Joe seinem Vater das gebrochene Nasenbein erklärt hatte. Dank der Hilfe von Onkel David und Onkel Jasper stand ihr Wagen wieder in der Garage, versehen mit einem neuen Reifen. Und Jack Dolan war zu verdanken, dass sie bei dem Vorfall mit einer geschwollenen Lippe und ein paar blauen Flecken davongekommen war.
    Plötzlich sah sie eine Sternschnuppe am Himmel.
    „Daddy? Bist du das?“ flüsterte Isabella. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Meine sichere kleine Welt scheint mit einem Mal in tausend Stücke zerbrochen zu sein.“
    Sie begann, stumm zu weinen. Dicke Tränen rollten über ihre Wangen. Dennoch sprach sie weiter, als würde ihr Vater in seiner gewohnten Weise neben ihr stehen, den Kopf leicht zur Seite geneigt und ein verhaltenes Lächeln auf den Lippen.
    „Onkel Frank ist auch tot, weißt du. Ich nehme an, ihr beide grübelt jetzt im Jenseits über eurem Schachbrett.“ Sie fuhr sich mit den Fingern unter den Augen entlang und wischte die Tränen weg. Als sie an die langen Winterabende dachte und an die hitzigen Debatten der beiden, wenn es um Schachprobleme ging, musste sie lächeln. „Kann man im Himmel streiten? Falls nicht, werdet ihr euch bestimmt ganz schön langweilen, wie?“
    Sie blickte nach oben, wie auf eine Antwort wartend, die aber nicht kam. Schließlich ließ sie den Kopf sinken. Ihre Schultern bebten, als sie die Hände vor das Gesicht hielt und ein Schluchzen unterdrückte.
    In dieser Haltung entdeckte Jack Dolan sie; am Ende der Terrasse im Mondlicht stehend und mit traurig geneigtem Kopf. Außer ihm war der einzige Zeuge ihres Kummers ein Nachtvogel, der von einem Baum in der Nähe rief. Jack zögerte und überlegte, ob er ins Haus zurückkehren sollte. In diesem Augenblick fuhr Isabella zusammen und drehte sich um.
    Er fluchte leise, zornig auf sich selbst, weil er zu lange gewartet hatte. Sie in Verlegenheit zu bringen, war keineswegs seine Absicht. Der heutige Tag war belastend genug für sie gewesen.
    „Tut mir Leid“, sagte er. „Ich bin nur nach draußen gekommen, um Luft zu schnappen. Ich kann wieder ins Haus …“
    „Nein“, erwiderte sie knapp. „Kein Grund für eine Entschuldigung. Sie sind Gast und haben Zutritt zu allen Bereichen des Hotels.“
    Der Schmerz, der in ihrer Stimme mitschwang, traf ihn körperlich. Wie eine Flamme, die das trockene Holz suchte, fühlte er sich zu Isabella hingezogen. Trotz des schwachen Lichts sah er, dass ihre Unterlippe bebte und ihre Wangen tränenfeucht waren. Etwas tief in ihm schien sich zu lösen.
    „Miss Abbott …“
    Sie verzog ein wenig spöttisch die Lippen. „Ich dachte, diese Förmlichkeit hätten wir hinter uns.“
    Jack betrachtete ihr Gesicht, die Tränenspuren auf ihren Wangen.
    „Ich weiß, es gibt keine Worte, die Ihre Trauer mildern können. Wenn ich doch etwas für Sie tun kann, zögern Sie nicht und sagen Sie es.“
    Isabella durchdrang mit ihrem Blick das Halbdunkel und sah dem hoch gewachsenen Mann in die Augen. Ihr Vater hatte immer behauptet, sie sei eine gute Menschenkennerin. Hoffentlich hatte er Recht

Weitere Kostenlose Bücher