Eiskalter Sommer
auch noch an!“
Marie nahm ein Blatt nach dem anderen auf. „Mietvertrag, Sterbegeldversicherung, Adresse eines ... ihres Sohnes? Grabpflege-Vertrag mit einer Gärtnerei, Grundbucheintragung für das Haus, ein Sparvertrag über 5000 Euro, Versicherungsunterlagen, Rentenbescheid.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und das hatte sie alles bei sich?“ Sie nahm ein weiteres Blatt auf und stutzte. „Mein letzter Wille. Ihr Testament? Sie hatte sogar ihr Testament dabei?“
„Lies!“, forderte Konrad Röverkamp seine Kollegin auf.
Marie zögerte, doch dann siegte die Neugier. Mit zunehmender Verblüffung entzifferte sie den in kleinen gestochenen Buchstaben niedergelegten letzten Willen von Amelie Johanna Friederike Karstens.
*
Evers war müde und hungrig. Der Tag war voller Hektik gewesen. Nach den Presseleuten waren Radioreporter aufgetaucht, denen er dasselbe erzählt hatte wie ihren Kollegen von der Zeitung. Dann hatte er mit dem Geschäftsführer die Lage erörtert. Weil die Banken die notwendigen Kredite verweigerten, würde sich die Verluste aus der Fischverarbeitung nicht auffangen lassen, ohne das ganze Unternehmen zu gefährden. Gemeinsam hatten sie schließlich mit Behrendsen telefoniert. Das Schicksal der Mitarbeiter schien ihn nicht besonders zu berühren. Die Logistik-Sparte würde allemal genug abwerfen, um ihm seinen Lebensstil weiterhin zu garantieren. Bei den Banken hatte Evers keinen Verantwortlichen erreicht.
Wie nebenbei erledigte er die alltägliche Arbeit. Ein Tiefkühlschiff war aus Nordamerika eingetroffen und musste entladen werden. Angesichts der hohen Außentemperatur sorgte er dafür, dass die Vorhalle gekühlt und die Temperatur im Lagerhaus noch weiter heruntergefahren wurde. Gleichzeitig waren ein halbes Dutzend Lkw-Transporte abzufertigen gewesen. Evers hatte zwischendurch im Sekretariat den einen oder anderen Kaffee hinuntergestürzt, aber keine Zeit für einen Imbiss gefunden.
Inzwischen war Feierabend, die Sekretärinnen hatten ihre Schreibtische aufgeräumt, und auf dem Gelände war Ruhe eingekehrt, nachdem der Frachter den Liegeplatz verlassen hatte. Und er hatte noch immer nicht die eingelagerte Ware kontrolliert.
Evers seufzte, kramte in seiner Schreibtischschublade nach einem Schokoriegel, sein vorläufiges Abendbrot. Aus dem Ablagekorb zog er den Ausdruck für die Wareneingangskontrolle und verließ kauend das Büro. Normalerweise zog er einen gefütterten Parka über, wenn er sich länger als ein paar Minuten in der Kälte des Tiefkühllagers aufhielt. Aber ihm war warm von der Hitze und vom Trubel des Tages, und er nahm sich vor, die Kontrolle nicht allzu sehr auszudehnen. Gerade so lange, wie es in der Kälte auszuhalten war. Er würde eine Handvoll Stichproben nehmen und die Zahlen von fünfzehn oder zwanzig Kartons mit denen auf seiner Liste vergleichen. Dafür würde es reichen. Und dann würde er den Abend auf der Terrasse des Restaurants „Am Pier“ an der „Alten Liebe“ mit einem Rib-Eye-Steak und einem Jever Pils beschließen. Beim Bier durfte es auch etwas mehr sein.
Flackernd entflammten die Leuchtstoffröhren, als er die Kühlhalle betrat und den Lichtschalter betätigte. In der ersten Sekunde nahm ihm die Kälte fast den Atem. Heute empfand er den Unterschied zwischen der Wärme in den aufgeheizten Büros und der trockenen Kaltluft als besonders krass. Gut und gerne fünfzig Grad Temperaturunterschied versetzten allen Sinnen einen Schlag.
Evers beeilte sich, in den Abschnitt mit den neu eingelagerten Produkten zu kommen. Die Halle war nahezu vollständig gefüllt. In den haushohen beweglichen Regalsystemen waren die Paletten bis unter die Decke gestapelt. Tausende Kartons waren systematisch geordnet in den Regalen abgelegt. Sie unterschieden sich lediglich durch minimale Varianten in den Strichcodes. Auf jedem Paket war die Partie vermerkt, zu der es gehörte, die Bezeichnung seines Inhalts und eine entsprechende Nummer. Evers begann, die Beschriftungen einiger für ihn erreichbarer Pakete mit den Angaben auf seinen Listen zu vergleichen. Zufrieden hakte er etliche Zahlenfolgen ab. Dann zog er einen Karton von einer der untersten Paletten und trug ihn zu einem Tisch. Mit dem Teppichmesser, das dort bereitlag, schnitt er die Verpackung auf. Der Inhalt entsprach der Aufschrift: Rohe Garnelen ohne Kopf. Und sie sahen so aus, wie sie aussehen sollten. Kein Eis, kein Reif, keine Spuren unsachgemäßer Lagerung.
Er ließ den offenen Karton liegen und
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