Eiskalter Sommer
Vielleicht ist er an einem Herzschlag gestorben . Sie musste plötzlich an ihren Vater denken. Derselbe Typ, das gleiche Alter? Achtete nicht auf seine Gesundheit. Die Vorstellung, ihn womöglich eines Tages so zu sehen, erschreckte sie.
„Wer hat ihn gefunden?“
„Die drei dort drüben.“ Der Beamte wies auf eine Gruppe älterer Damen, die vor der Sonne in den Schatten eines nahen Buschwerks geflüchtet waren. Alle drei trugen helle Hosen, helle Sommerjacken und weiße Hüte, was sie nach Maries Erfahrung als Kurgäste auswies. „Die Personalien habe ich schon notiert“, ergänzte der Uniformierte. „Die Damen wohnen im Haus Seestern und bleiben noch knapp zwei Wochen hier.“
Marie rechnete nicht damit, von den Zeuginnen nennenswerte Hinweise zu bekommen. Da die Kollegen sie aber warten lassen und ihre Personalien zu Protokoll genommen hatten, wollte sie sie auch nicht kommentarlos wegschicken. Also würde sie sich ihre Geschichte anhören und sich höflich bedanken.
*
Konrad Röverkamp war in der Zwischenzeit in der Dienststelle angekommen. Marie hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz gesehen und sich auf Vorhaltungen eingestellt. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht an die Anweisung gehalten hatte, ihn zu informieren, wenn sie einen Fall auf den Tisch bekämen. Andererseits war überhaupt nicht sicher, ob der Mann vom Dünenweg einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Es sah im Gegenteil alles danach aus, als sei er zwar plötzlich, aber eines natürlichen Todes gestorben.
Als sie das Büro betrat, saß Röverkamp an seinem Schreibtisch, auf dem ein Umschlag und verschiedene Schriftstücke lagen. Er las jedoch nicht darin, sondern starrte nur auf die Papiere.
„Wie geht es Amelie?“, fragte sie und ließ sich auf ihrem Platz nieder. Der Hauptkommissar antwortete nicht, und sie fragte sich, ob er ihretwegen so verschlossenen wirkte. Hatte ihm jemand gesteckt, dass es einen Toten gegeben hatte und sie allein zur Fundstelle gefahren war?
Sie musterte ihren Kollegen. Er sah müde aus, die Augen wirkten überanstrengt und ihr fiel auf, wie sehr sich die grauen Fäden in seinem dunklen Haar und dem Backenbart vermehrt hatten. Konrad Röverkamp gehörte wie Maries Vater zu dieser gefährdeten Altersgruppe der Mittfünfziger, die zu viel arbeiteten und zu wenig auf ihre Gesundheit achteten. Sie nahm sich vor, ein ernstes Wort mit Amelie Karstens zu sprechen. Sie durfte ihn nicht zu sehr verwöhnen. Etwas weniger Alkohol und eine gesündere Ernährung würden ihm sicher guttun. Außerdem hatte er sein Bewegungsprogramm in letzter Zeit vernachlässigt. Sie sollte ihn vielleicht daran erinnern.
„Meine liebe Marie“, Konrad Röverkamp sah sie mit düsterer Miene an, „wenn du schon allein zum Fundort einer Leiche oder zu einem Tatort fährst, solltest du mich wenigstens informieren.“
„Entschuldige, Konrad, ich dachte ...“
„Ich hatte dich ausdrücklich darum gebeten. Ich schätze deine Arbeit, Marie. Aber ich bin für das Kommissariat verantwortlich und muss wissen, was hier läuft. Immer und in jedem Fall. Ist dir das klar?“
„Natürlich. Entschuldige bitte. Ich wollte ...“
„Einmal reicht“, unterbrach sie der Hauptkommissar knurrig. „Und nun ist’s gut.“
Marie nickte betreten. Wie geht es Amelie ?“, wiederholte sie nach einigen Sekunden Schweigens leise ihre Frage. „Hast du mit ihr sprechen können?“
Statt einer Antwort schob er die Schriftstücke auf seinem Platz zusammen und breitete sie auf Maries Schreibtisch wieder aus. Erst dann erklärte er ihr: „Sie hatte einen Schlaganfall. Und dann noch einen. Und daran ist sie gestorben.“
„Gestorben?“ Marie schlug die Hand vor den Mund. „Amelie Karstens ist tot? Ich kann es gar nicht ...“ Sie brach ab und schob die Papiere auf dem Schreibtisch herum, ohne es zu bemerken.
Röverkamp deutete auf die Unterlagen. „Schau dir das an! Das war alles in einem großen Umschlag. Den trug sie bei sich, als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde.“
Marie griff wahllos eines der Blätter. „Ihre Geburtsurkunde?“
„Achte auf das Datum!“
„Karstens, Amelie Johanna Friederike“, las Marie halblaut vor. „Geboren am 22. März 1918 in Cuxhaven.“ Sie sah auf. „1918? Dann wäre sie ja ... Aber ich dachte immer, sie war achtundsiebzig. Dann hat sie ...“
„... uns um zehn Jahre beschwindelt“, ergänzte Röverkamp. Ein schwaches Lächeln umspielte seinen Mund. „Schau dir die anderen Sachen
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