Eiskalter Sommer
lief zum Ende des Hochregals. Um eine weitere Stichprobe aus einem anderen Bereich nehmen zu können, musste er das Regal ein Stück zur Seite fahren. Damit der Platz in der Kühlhalle optimal genutzt werden konnte, konnten die Regale verschoben werden. Für die Lagerung standen sie dicht aneinander, zum Be- und Entladen wurden sie elektrisch bewegt, so dass ein Zugang entstand.
Als Evers die Hand nach dem Schalter ausstreckte, hörte er ein dumpfes Geräusch. Als wenn eine Tür zufiel. Sollte außer ihm noch jemand in der Halle sein? Rasch umrundete er das Regal und musterte das andere Ende des Ganges, an dessen Ende sich die Eingangstür befand.
Da sich dort nichts rührte, kehrte er achselzuckend zur Schalttafel zurück. Auf Knopfdruck begann sich das gewaltige Regalsystem mit seinen unzähligen Paletten und den darauf gestapelten Kartons seitwärts zu bewegen. Evers stoppte die Motoren, als ein gut schulterbreiter Gang entstanden war, lief hinein und zog ein weiteres Paket hervor.
In diesem Augenblick setzte sich das Regal in Bewegung.
Evers erstarrte, dann rannte er los. Er rannte um sein Leben. Wenn er das Ende des Ganges nicht rechtzeitig erreichte, würde er zwischen den Paletten zerquetscht werden. Während das Regal brummend näher kam, wurden die Sekunden zu Minuten. Etwas hielt ihn zurück. Er riss sich los. Sein Hemd war an einer vorstehenden Palette hängen geblieben. Nur wenige Schritte trennten ihn vom rettenden Quergang. Schon spürte er die Paletten an den Schultern. Mit einem einzigen großen Satz warf er sich vorwärts. Sein Hosenbein verhakte sich, riss, löste sich zu spät. Evers schlug der Länge nach hin. Aber sein Oberkörper war frei. Als das Regal zum Stillstand kam, klemmten nur noch seine Unterschenkel und die Füße zwischen zwei Paletten. Ein stechender Schmerz durchzuckte sein linkes Fußgelenk. Und er spürte die Eiseskälte des Hallenbodens durch Hemd und Hose.
Erneut drang ein dumpfes Geräusch an seine Ohren, das er jedoch nicht zuordnen konnte. Evers fühlte Panik in sich aufsteigen und zwang sich zur Ruhe. Vorsichtig zog er das rechte Bein aus der Umklammerung und versuchte, auch das Linke zu bewegen. Der Schmerz wurde unerträglich. Anscheinend klemmte der Schuh zwischen zwei Palettenkanten fest.
Mit zusammengebissenen Zähnen richtete er den Oberkörper auf und schob sich näher an sein gefangenes Bein heran. Unter Anstrengung erreichte er den eingeklemmten Schuh und löste die Schnürbänder. Dann zog er den Fuß vorsichtig heraus. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen, und er spürte, wie sie in den Augenwinkeln zu Eis gefroren. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass er die Kühlhalle verlassen sollte. Die eisige Luft biss von allen Seiten zu. Aus Ohren, Fingerspitzen und Zehen begann das Blut zu weichen, die Gesichtshaut spannte und sein bestrumpfter Fuß fühlte sich an wie vereist. Sogar der Schmerz im Sprunggelenk ließ nach.
Jetzt wird’s aber Zeit. Bin schon viel zu lange in der Kälte .
Den linken Fuß möglichst schonend aufsetzend, humpelte er in Richtung Ausgang. Noch nie war Evers der Aufenthalt in sommerlicher Hitze so erstrebenswert erschienen.
Der Türgriff hakte, er drückte ihn erneut, legte mehr Kraft auf den Hebel. Ohne Erfolg. Verständnislos starrte er auf die Tür. Wütend riss er ein weiteres Mal an der überdimensionalen Klinke, setzte das Gewicht seines Oberkörpers ein, um sie zu bewegen. Vergebens.
Der Notausgang! Ich muss den Notausgang benutzen.
So schnell es sein schmerzender Fuß zuließ, hastete er durch die Halle. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine Notfalltür, die sich nur von innen öffnen ließ. Mit beiden Händen ergriff er den Öffnungshebel. Aber auch dieser bewegte sich nicht.
Beide Ausgänge blockiert. Das kann doch kein Zufall sein. Will mich jemand umbringen?
Zitternd tasteten seine Finger nach dem Handy. Ein Kollege musste ihn von außen befreien. Doch das Mobiltelefon steckte nicht an seinem Platz. Er hatte es auf dem Schreibtisch liegen gelassen.
Evers spürte, wie eine Faust seinen Magen zusammendrückte. Ihm wurde übel und schwindelig. Seine Knie gaben nach, und er sank auf den eisigen Boden.
4
Sie hatte sich umgezogen. Statt Hose und Pullover trug sie nun eine schulterfreie schwarze Bluse und einen sehr kurzen roten Rock. Dazu rote Schuhe mit hohen Absätzen. Die Haare hatte sie hochgesteckt.
In dieser Kleidung und mit dieser Frisur ähnelte sie Olivia Newton-John in „Grease“. Jan
Weitere Kostenlose Bücher