Eiskalter Sommer
Vor seinem Platz stapelten sich Türme aus Pfennigen, Fünfern und Groschen.
Susanne sorgte für Salzstangen und Getränke. Sie blieb mal hinter dem einen, mal hinter dem anderen Spieler stehen und schaute ihm über die Schulter ins Blatt. Dabei stützte sie sich auf der Stuhllehne ab, wobei ihr Haar oder ihre Hand, gelegentlich auch ihr Busen, die Schultern der Gäste streifte und ein Hauch ihres Parfüms ihre Nasen umwehte. Die zunehmenden Gewinne ihres Vaters hatten wohl auch mit der abnehmenden Konzentration der anderen Mitspieler zu tun.
Als die Uhren elf schlugen, wies Clasen mit dem Daumen über die Schulter. „Für mich wird’s Zeit. Muss morgen früh raus. Melken, füttern und so weiter. Ihr könnt ja ohne mich weitermachen. In eurem Alter habe ich manchmal ... Na ja. Man soll ja kein schlechtes Vorbild sein. Also gute Nacht, Jungs.“ An der Tür drehte er sich noch einmal um und deutete auf die Münzen an seinem Platz. „Den Gewinn könnt ihr euch teilen. Will euch nichts von eurem kargen Sold wegnehmen.“
Hendrik und seine Freunde hoben die Gläser. „Danke, Herr Clasen!“
Und Sven fügte hinzu: „Auch für’s Telefonieren und die Übernachtung. Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.“
Der Bauer winkte ab und verschwand durch die Tür.
„Wer gibt?“ Jan ließ den Kartenstapel durch seine Finger laufen.
Hendrik lehnte sich zurück und sah Susanne an. „Wie wär’s? Hast Du Lust?“
Statt einer Antwort zog sie eine Tür des altdeutschen Wohnzimmerschrankes auf. Dahinter kam eine moderne Stereoanlage zum Vorschein. Susanne lächelte vieldeutig. „Lust hätte ich schon. Aber nicht auf Karten.“
„Alle Achtung!“ Hendrik war aufgesprungen. „Grundig Kompaktanlage Studio 3000. Ihr seid ja gut ausgestattet. Meine Alten haben immer noch diese Musiktruhe, die sie gekauft haben, als ..., jedenfalls ist die älter als ich. Eine Saba Bodensee sonorama. Klingt zwar noch ganz gut. Aber das hier ist doch was anderes. Seht mal, mit Kassetten-Tonband.“
Sven und Jan hatten sich erhoben und bestaunten das moderne Gerät. Susanne klappte den transparenten Kunststoffdeckel hoch, zog eine Schallplatte aus dem Fach unter der Anlage und hielt sie hoch. „Wie wär’s? Und wie wär’s damit?“
Jan hob unsicher die Schultern, Sven reckte den Hals, um den Titel auf der Platte zu erkennen. Hendrik reagierte als erster. „Na klar! Leg auf!“
Susanne ließ die schwarze Scheibe auf den Plattenteller fallen und drückte einen Knopf. Zuerst war nur das Kratzen der Nadel zu hören, dann ertönten die ersten Takte. Baccara. Susanne bewegte ihre Hüften im Rhythmus des Liedes, dann fiel sie ein: “Sorry I’m a lady, sorry I’m a lady, I would rather be, rather be – just a little shady, just a little shady …” Tänzelnd hangelte sie sich eine Zigarette aus einer Packung auf dem Spieltisch, steckte sie zwischen die Lippen und sang wieder mit: „Have you got a light, got a light for me tonight?“
Hendrik zog sein Feuerzeug aus der Tasche und ließ es aufschnappen. Susanne hielt für Sekunden seine Hand fest und entzündete ihre Zigarette an der Flamme. Sie inhalierte und blies den Rauch über die Köpfe der drei Jungen hinweg. „Ich meinte tanzen. Habt ihr nicht Lust zu tanzen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie einen Arm um Hendrik und drängte ihn von der Musikanlage fort zur freien Fläche vor dem Tisch. Hendrik versuchte, ihren Bewegungen zu folgen. Zuerst schien er gehemmt, doch dann ging er zunehmend aus sich heraus und passte seine Bewegungen denen seiner Partnerin an. Jan und Sven beobachteten die Szene mit einer Mischung aus Unsicherheit, Staunen und Bewunderung. Jan putzte aus Verlegenheit seine Brille mit dem Taschentuch, setzte sie aber rasch wieder auf, als Susanne sich gegen Hendriks Körper drückte und mit den Hüften laszive Bewegungen vollführte. Plötzlich stieß sie sich von ihm ab und bewegte sich im Takt der Musik auf die Beobachter zu. Im nächsten Augenblick wirbelte sie mit Sven und Hendrik über das Parkett der Wohnstube. Als die Musik erstarb, hielt sie beide Tanzpartner eng umschlungen und rief Jan zu: „Leg mal die nächste Platte auf!“
Mit fliegenden Händen wechselte Jan die schwarzen Scheiben, ohne auf den Titel zu achten. Wieder erklangen die Stimmen von Baccara: „Mister, your eyes are full of hesitation …”
Susanne sang mit: „Yes Sir, I can boogie, but I need a certain song. I can boogie, boogie woogie all night long.“ Sie lachte
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