Eiskalter Sommer
wie sollte er sich wach halten? Wieder hinaus in den eisigen Wind? Im Auto zog es nun nicht mehr, auf der Windseite war der Schnee inzwischen bis zum Dach angeweht worden. Ob die Batterie noch genug Strom für das Radio lieferte?
Er drehte den Einschaltknopf. Zu seiner Überraschung leuchtete das Skalenlicht mit leichter Verzögerung auf. Und dann hörte er den Nachrichtensprecher von Bremen eins.
„Wie in Schleswig-Holstein sind auch in unserem Sendegebiet zahlreiche Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten. Vielfach wurden Telefonverbindungen unterbrochen, weil Leitungen durch die Schneemassen beschädigt wurden. – In der Nähe von Bremerhaven musste eine Hebamme, die zu einer bevorstehenden Geburt gerufen worden war, unverrichteter Dinge umkehren, weil die Straßen unpassierbar waren. Auch der alarmierte Notarztwagen konnte das Ziel nicht erreichen. Die Mutter brachte unterdessen einen gesunden Jungen mit Hilfe einer Nachbarin zur Welt. – Der Transitverkehr nach Berlin wird durch die Witterung erheblich behindert. Während in der DDR Einsatzkräfte der Volksarmee gegen die Schneemassen kämpfen, wird in der geteilten Stadt ...“
Die letzten Sätze erreichten seine Ohren, drangen aber nicht bis in sein Bewusstsein vor. In Gedanken erlebte er die Geburt seines eigenen Kindes. Es war noch nicht lange her. Ein halbes Jahr vielleicht. Swantje war froh gewesen, als die Schwangerschaft zu Ende ging. Die Sommerhitze hatte ihr zu schaffen gemacht. Als die Wehen einsetzten, waren sie mit der vorbereiteten Tasche ins Krankenhaus gefahren. „Ein gesunder Junge“, hatte die Schwester gesagt. „Herzlichen Glückwunsch, Herr Bohm.“
Es war nicht geplant gewesen. In aller Eile hatten sie geheiratet. Die Eltern hatten ihnen eine kleine Wohnung eingerichtet. Und sie unterstützten Swantje, solange er bei der Bundeswehr war. Es war nicht einfach, aber sie waren glücklich. Auch wenn der kleine Daniel seine Mutter stärker in Anspruch nahm, als es ihm lieb war.
Erik schloss die Augen, sah, wie Swantje den Kleinen stillte, wanderte mit seinem Sohn im Arm durch die Wohnung, beobachtete, wie er schließlich einschlief.
Aus dem Autoradio erklangen die Stimmen von Boney M.: „By the rivers of Babylon, there we sat down ye-eah we wept, when we remembered Zion ...“ Der Sommerhit des Jahres. Obwohl Swantje hochschwanger war, hatten sie versucht zu tanzen. Er sah ihr Gesicht. Dann sah er sie im Hochzeitskleid in der Frühlingssonne. Damals konnte man noch nichts erkennen.
Die Klänge aus dem Radio wurden leiser und verebbten schließlich ganz.
Nichts erkennen ... nichts ... Die Bilder zerflossen, verflüchtigten sich, verschwanden ganz und hinterließen nichts als Dunkelheit.
Im Traum kehrten sie noch einmal zurück. Er streckte die Hand nach Swantje aus, konnte sie aber nicht erreichen, denn Füße und Hände gehorchten ihm nicht. Als sie sich entfernte, begann er zu fliegen, und er wunderte sich, wieso er zuvor nichts von dieser Fähigkeit geahnt hatte. Aus der Luft erkannte er die Straßenzüge von Altenwalde, lenkte seine Bewegung in Richtung Finkenbarg. Dort hatten sie sich immer getroffen. Swantje würde am Kapellenweg auf ihn warten. Aber seine Flugbahn beschrieb einen Bogen in Richtung Himmel. Unbekannte Kräfte leiteten ihn weiter und weiter ins All. Unter ihm verschwand die Erde. Schließlich stürzte er in die unendliche Tiefe des Universums. Eisige Kälte umfing ihn, drang in ihn ein und floss durch ihn hindurch. Am Ende seiner Flugbahn erschien ein Licht, das rasch größer und heller wurde. Erik wusste plötzlich, dass dieses Licht sein Ziel sein würde.
*
Clasens Wohnstube war eingerichtet, wie man es sich bei einem wohlhabenden Landwirt vorstellt. Altmodisch, aber gediegen. Ein großer Wohnzimmerschrank mit dunkel verglasten Türen, gegenüber die Anrichte mit einer alten Tischuhr. Die Polstergarnitur in Brokat fehlte ebenso wenig wie der Fernseher in der Zimmerecke. Eine Standuhr schlug neun mal, als sie sich auf ihren Plätzen niedergelassen hatten. Dazu ließ die Uhr auf dem Büffet ein helles Glockenspiel erklingen. Sie saßen an einem runden Tisch, der wahrscheinlich der Familie an Sonn- und Feiertagen zum Essen diente und heute für die Skatrunde vorbereitet worden war.
Schon bald war die Luft angefüllt mit Zigarettenrauch, Bierdunst und den Kommentaren der Skatspieler. Zu Beginn der Partie hatte der Bauer verloren. Aber jetzt holte er auf. Drei Runden in Folge hatte er hoch gewonnen.
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