Eiskalter Sommer
Tätigkeitsfeld herrührte. Seit er sich einer Aktionsgemeinschaft gegen die Elbvertiefung angeschlossen hatte, lebte er sichtlich auf. Seine Tätigkeit in der Stadtverwaltung hatte ihn in den letzten Jahren nicht mehr befriedigt. Weil er nicht der richtigen Partei angehörte, hatte man ihn bei der Besetzung der Amtsleiterstelle übergegangen. Seitdem wartete er auf die Pensionierung. Mit der Arbeit in der Aktionsgemeinschaft hatte er offenbar eine Aufgabe gefunden, die ihn herausforderte. Während er von den Plänen zur weiteren Ausbaggerung der Elbe zwischen Hamburg und Cuxhaven berichtete, leuchteten seine Augen. So hatte Marie ihn lange nicht erlebt. Wenn sie ihre Eltern in Otterndorf besucht hatte, war er meistens damit beschäftigt gewesen, den Garten zu pflegen oder am Haus etwas in Ordnung zu bringen. Jetzt brütete er über Akten und Zeitungsausschnitten oder telefonierte mit anderen Mitgliedern der Aktionsgemeinschaft, wenn sie in ihr Elternhaus kam. Für sie unterbrach er seine Arbeit sofort. Und nun saßen sie auf der Terrasse des kleinen Einfamilienhauses am Helgoländer Weg und beobachteten eine Entenfamilie auf der Medem. Holger Janssen berichtete, wie sie die örtlichen Politiker unter Druck setzen wollten. Einiges davon hatte in Maries Ohren ein wenig nach Nötigung geklungen.
„Wo denkst du hin, Mädchen. Dein Vater doch nicht!“ Dann erschien ein spitzbübisches Lächeln auf seinem Gesicht. „Und wenn, werde ich es dir nicht auf die Nase binden“, lachte er. „Aber falls du mich verhaftest, wäre ich ja in guten Händen.“
„Lasst diesen Unsinn!“, warf Maries Mutter ein und schob ihrer Tochter den Kuchenteller hin. „Iss lieber noch ein Stückchen. Du bist so schmal geworden, Kind. Findest du nicht auch, Holger?“
„Quäl das Mädchen nicht mit deinen Vorstellungen von gesundem Aussehen“, antwortete Maries Vater. „Sie ist alt genug, um selbst zu entscheiden, wie viel sie isst. Ich übrigens auch.“ Damit angelte er sich ein Stück vom Teller und erntete dafür kritische Blicke seiner Frau und seiner Tochter.
„Apropos verhaften“, nahm Holger Janssen den Faden wieder auf. „Habt ihr schon eine Spur in der CuxFrisch-Geschichte? Oder war es ein Unfall?“
Marie schüttelte den Kopf. „Nein. Kein Unfall. Aber wir tappen noch im Dunkeln.“ Sie mochte nicht über ihre vagen Vermutungen reden. Außerdem interessierte sie sich für die Aktivitäten ihres Vaters. „Warum wollt ihr nicht abwarten, bis klar ist, was überhaupt mit der Elbe passieren soll? Bis jetzt könnt ihr doch nur gegen Pläne protestieren, über die noch gar nicht entschieden ist.“
„Liest du denn keine Zeitung, Marie?“ Holger Janssen geriet in Fahrt. „Für Hamburg ist die Elbvertiefung beschlossene Sache. Die können einfach den Hals nicht voll kriegen. Seit hundertfünfzig Jahren baggern sie die Fahrrinne tiefer und tiefer. Damals ging es um gut fünf Meter. Jetzt sind wir bei über vierzehn Metern. Du musst dir das mal ansehen, wie so ein Containerschiff hier vorbeizieht. Wenn dessen Bugwellen gegen den Deich klatschen, dann kriegst du eine Ahnung davon, wie es bei der nächsten Sturmflut aussehen kann. Wir kriegen einen höheren Tidenhub, der Uferschutz geht den Bach runter und kein Mensch weiß, wie sich die weitere Vertiefung auf unser Grundwasser auswirken wird. Der Salzgehalt ist doch jetzt schon ...“
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. „Das wird Christian sein. Bin gleich wieder da.“
„Vater ist wie ausgewechselt“, stellte Marie fest, nachdem Janssen im Inneren des Hauses verschwunden war. „Ich finde das toll. Wie er sich engagiert ...“
Maries Mutter nickte, ihre Miene blieb aber besorgt. „Ja, er ist wieder ganz der Alte. Aber er müsste mehr auf seine Gesundheit achten. Er mutet sich zu viel zu. Ich mache mir Sorgen, weil er ...“ Sie sah sich um. Holger Janssen schien noch zu telefonieren. Seine Stimme klang gedämpft aus dem Hausflur.
„... weil er nicht zum Arzt geht?“ Marie kannte die unendliche Geschichte der Verweigerungen, wenn es um seine Gesundheit ging. Ihr Vater hasste Arztbesuche und hielt Vorsorge für überflüssig.
Ihre Mutter nickte und öffnete den Mund – blieb aber stumm, weil ihr Mann auf die Terrasse zurückkehrte.
„Das war Christian Fedder. Ein ganz plietscher Junge.“
„Fedder?“ Marie hatte unwillkürlich heftig reagiert. „Aus Altenbruch?“
Holger Janssen nickte. „Kennst du ihn?“
10
Fassungslos starrten die Männer in
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