Eiskalter Sommer
. Er verließ seinen Beobachtungsposten und holte sich eine Flasche Bier aus der Küche, stellte den Fernseher an und ließ sich in einen Sessel fallen.
In dem Augenblick, in dem er zum ersten Schluck ansetzte, schrillte die Haustürklingel. Bohm erschrak. Zögernd stellte er die Flasche ab und erhob sich. Sollte er öffnen?
20
Schweigend wanderten die Männer durch die nächtliche Stadt. Unter ihren Schuhen knirschte der Schnee. Es war das einzige Geräusch, das sie begleitete. In der Zeit zwischen Mitternacht und Morgen schien die ganze Stadt und ihre Bevölkerung im Schlaf versunken zu sein. Hendrik und Sven schritten zügig aus, Jan trottete mit zunehmendem Abstand hinterher. Hin und wieder blieben die beiden stehen und trieben ihn zur Eile. In einer knappen Stunde war Wecken. Bis dahin mussten sie in der Kaserne sein.
Um von Bremen nach Lüneburg zu gelangen, hatten sie den Rest des Tages und fast die ganze Nacht benötigt. Der Lastwagenfahrer, der sie am Bremer Kreuz aufgegabelt hatte, war nur bis Sittensen gefahren. Unterwegs hatte er ihnen das Kontrastprogramm zum kiffenden Tom geboten. „Diese langhaarigen Affen gehören alle ins Arbeitslager. Und Terroristen müsste man einfach an die Wand stellen.“ Einwände hatte er nicht gelten lassen. „Helmut Schmidt sollte die GSG 9 öfter einsetzen. Dann hätten wir weniger Probleme, glaubt mir, Jungs. Ihr werdet auch noch dahinterkommen, wenn ihr arbeitet und Steuern zahlt.“
Auf der A 1 waren nur noch vereinzelt Fahrzeuge unterwegs gewesen. Um während der Wartezeiten nicht zu erfrieren, waren sie zwischendurch immer wieder einige Kilometer gelaufen. Stück für Stück hatten sie sich Lüneburg genähert.
Und nun wurde die Zeit knapp. Außerdem konnten sie nicht einfach durchs Kasernentor spazieren. Die Wachsoldaten würden ihre Ausweise kontrollieren und auf diese Weise mitbekommen, wann sie zurückgekehrt waren. Sie mussten also irgendwo unbeobachtet über den Zaun oder Mauer klettern. Die Stellen, an denen das möglich war, kannten sie zwar, aber durch den Schnee war es trotz der nächtlichen Stunde nicht wirklich dunkel.
Als sie die rückwärtige Mauer der Scharnhorst-Kaserne erreichten, blieben noch knapp zwanzig Minuten bis zum Wecken. Weit und breit war niemand außer ihnen unterwegs. Sven bildete eine Räuberleiter, und Hendrik stieg in die Mulde der gefalteten Hände. Dann kletterte er auf Svens Schultern und musterte das Gelände hinter der Mauer. „Die Luft ist rein!“, rief er halblaut von oben. „Los, Jan. Jetzt du.“ Zuletzt zogen sie Sven hoch, dann sprangen sie in den Schnee auf der Innenseite.
„Geschafft!“, frohlockte Hendrik. „Noch fast eine Viertelstunde bis zum Wecken. Das kriegen wir hin. Beeilt euch!“ Er stürmte voran.
In diesem Augenblick klickte der Verschluss eines G3-Gewehrs. „Halt! Stehen bleiben!“
Erschreckt fuhren die Kameraden herum.
*
„Ich sehe es dir an. Du hast etwas gefunden.“ Konrad Röverkamp sah Marie erwartungsvoll entgegen, als sie das Büro betrat.
„Das mit dem Zeitungsarchiv war eine gute Idee. Dieser Winter muss wirklich katastrophal gewesen sein. Ohne die Bilder und Berichte aus der Zeitung hätte ich mir das gar nicht richtig vorstellen können. Bei Gelegenheit musst du mir mal davon erzählen. Ich war ja gerade erst geboren.“
Sie legte den Stapel Kopien auf ihrem Schreibtisch ab. „Unglaublich, was damals alles passiert ist. Aber das Interessanteste habe ich nicht bei den Meldungen gefunden.“ Sie zog ein Blatt aus dem Stapel und hielt es so, dass Röverkamp einen Blick darauf werfen konnte.
„Todesanzeigen?“
„Genau!“ Marie tippte auf die Nachrufe.
„Claas Clasen? Wer soll ...“
„Nein. Nicht der. Schau dir die kleinere daneben an. Im Februar 1979 ist ein junger Mann von gerade mal zwanzig Jahren gestorben. Sein Vorname war Erik.“
Mit zusammengekniffenen Augenlidern studierte Röverkamp die Anzeige und murmelte halblaut Worte aus der Anzeige. „Erik Bohm. Hoffnungsvoller Vater und Ehemann. Tragische Umstände.“
Er sah auf. „Marie, das ist genial! Gute Arbeit! Jetzt haben wir nicht nur den Namen, sondern auch eine Adresse, bei der wir ansetzen können. Und mit den vollständigen Personalien können wir bei Behörden nachfragen, ohne uns dumme Antworten anhören zu müssen. Die Kollegen von der Fahndung haben nämlich noch nichts herausgefunden.“
„Soll ich das übernehmen?“
„Dafür wäre ich dir sehr dankbar.“ Röverkamp sah auf die Uhr.
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