Eiskalter Sommer
gefülltes Archiv mit den alten Ausgaben. Parallel dazu würde er bei der Staatsanwaltschaft und im Landeskriminalamt nach ungeklärten Todesfällen forschen.
Die Aussicht, konkrete Schritte planen zu können, erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Er ging zum Kühlschrank, um auch noch die letzte Flasche Bier zu öffnen. Während er sein erneut Glas füllte, nahm er sich vor, endlich für neue Vorräte zu sorgen. In diesen Tagen ohne kühles Bier auskommen zu müssen, war eine beunruhigende Vorstellung.
*
Erwartungsvoll blätterte Marie die schon leicht vergilbten Zeitungsseiten durch. 1978 war ihr Geburtsjahr. Ihre Eltern hatten damals noch in Cuxhaven gewohnt. Ich sollte sie mal fragen, wie sie diesen Winter erlebt haben.
Eine freundliche Mitarbeiterin der Zeitung hatte ihr die Jahrgänge 78 und 79 herausgelegt. Großformatige, schwere, in Kunstleder gebundene Folianten, die nach Staub und Speicherluft rochen. Nur drei Monate waren für sie interessant. Dezember 1978 und Januar und Februar des folgenden Jahres.
Mit zunehmender Faszination betrachtete Marie die Schlagzeilen aus der Vergangenheit.
Schnee-Chaos im Norden – Verkehrsstaus im Süden. Bisher zwölf Kälte-Tote. Katastrophenalarm und Fahrverbot im Landkreis Cuxhaven. Versorgung der Dörfer wird immer schwieriger. Oberkreisdirektor Prieß mit Hubschrauber über Katastrophengebiet. Hamsterkäufe verschärfen Situation im Kreis.
Zu den groß aufgemachten Artikeln gab es Fotos von eingeschneiten Fahrzeugen, von Menschen vor meterhohen Schneewällen und von vereisten Schiffen im zugefrorenen Hafen. Alle in Schwarzweiß. Marie wandte sich den kleineren Meldungen zu.
Die Ortschaft Cappel im Wurster Land ist seit zwei Tagen von der Außenwelt abgeschnitten. Auf der Weser gefährdet Treibeis die Schifffahrt. In Nordholz und Altenwalde sind Bergepanzer der Bundeswehr zum Schneeräumen im Einsatz. Von den Aussiedlernhöfen kann die Milch nicht abtransportiert werden. Bei einem Scheunenbrand in einem Neuenwalder Viehhandel kamen zweiundfünfzig Schweine um. In Ihlienworth brannte ein Einfamilienhaus bis auf die Grundmauern nieder, weil die drei Feuerwehren aus der Umgebung im Schnee stecken blieben und nicht eingreifen konnten. Beim Brand eines Stallgebäudes auf einem Aussiedlerhof in der Nähe von Debstedt starb der Landwirt in den Flammen, als er versuchte, seine Rinder zu retten. Dorfbewohner fanden später die verendeten Tiere im Umkreis des Hofes im Schnee. Die Tochter des Bauern war schwer verletzt und nicht ansprechbar. Auf der Bahnstrecke Cuxhaven-Bremerhaven endete die Fahrt des Eilzugs nach Aachen in einer zwei Meter hohen und hundert Meter langen Schneewehe bei Wremen. Der Zug musste mit zwei Lokomotiven zurück nach Cuxhaven gezogen werden.
Da Marie nicht wusste, wonach genau sie suchen sollte, nahm sie das Angebot an, die Zeitungsseiten zu kopieren. Nach zweieinhalb Stunden mühsamen Hantierens mit den schweren Folianten hatte sie einen Stapel Kopien aufgehäuft. Als sie Ende Februar 1979 erreicht hatte, gab es kaum noch Meldungen zum Winterwetter. Sie blätterte wieder zurück, um sicher zu sein, dass sie nichts übersehen hatte.
Dabei fiel ihr Blick auf einen Namen, der sie elektrisierte. Rasch ging sie ein weiteres Mal zum Kopierer. Dann stellte sie alle Bände ins Regal zurück und verabschiedete sich eilig. Sie brannte darauf, Konrad Röverkamp von ihrer Entdeckung zu berichten.
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Daniel Bohm war nicht wohl in seiner Haut, seitdem er das Foto an die Polizei geschickt hatte. Er hatte es zwar anonym zugestellt. Aber vielleicht hatten sie ja doch die Möglichkeit, ihn und dann auch seine Mutter – aufzuspüren. Er hatte immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Nachdem er bei seiner Rückkehr vom Friedhof den Wagen abgestellt hatte, sah er sich unauffällig um. Doch so weit er die Straße überblicken konnte, entdeckte er niemanden, der sich für ihn interessierte.
An der Haustür drehte er sich ein weiteres Mal um. Niemand war in der Nähe. Rasch schloss er auf und betrat das Treppenhaus. In der Wohnung trat er ans Fenster und sah auf die Straße hinunter. Ein silbergrauer Mercedes rollte langsam vorbei, hielt aber nicht an. Der Wagen wurde von einem Motorrad überholt, von dem er einen Moment lang glaubte, es schon am Friedhof gesehen zu haben. Der Fahrer war ihm aufgefallen, weil er trotz der Wärme einen schwarzen Lederanzug trug.
Unwillig schüttelte er den Kopf. Mach dich nicht verrückt. Du bildest dir jetzt echt was ein
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