Eiskalter Sommer
Bremerhaven und aus dem Elbe-Weser-Dreieck berichteten Reporter über die Auswirkungen der Hitzeperiode. Der Juli brach offenbar alle Rekorde. Landwirte klagten über Ernteausfälle, Waldgebiete waren für Besucher gesperrt worden, und das Wasser der Elbe war so warm wie nie zuvor.
Röverkamp ließ sich in einen der Sessel sinken und leerte sein Glas. Als der Moderator einen Beitrag mit Rezepten für leichte Gerichte und Tipps für gesunde Ernährung an heißen Tagen ankündigte, drückte er auf die Fernbedienung, um einen anderen Sender zu suchen. Nach einigen Werbeclips landete er bei einer Sendung über die Geschichte der norddeutschen Küstenländer. Interessiert verfolgte Röverkamp die Aufnahmen aus der Vergangenheit, erst in schwarz-weiß, später mehr und mehr in Farbe. Auch über die großen Naturkatastrophen. Die Filme aus dem Winter 1978/79 zeigten festgefahrene Züge, vom Schnee zugewehte Autos und Menschen, die mit Schaufeln und Schneeschiebern gegen die weißen Massen ankämpften.
Sofort drängten sich ihm Bilder aus seiner eigenen Erinnerung vor das Geschehen auf der Mattscheibe. Damals war er mit Ingrid in Schleswig-Holstein unterwegs gewesen. In einem VW-Käfer auf der Autobahn. Er hatte Schneeketten aufziehen müssen, und irgendwann waren sie fast allein unterwegs gewesen. Im Autoradio hatten sie Hinweise auf Straßensperrungen und Notunterkünfte in Turnhallen und Notfalleinsätze der Bundeswehr gehört. Ingrid hatte sich Sorgen um ihren Bruder gemacht, der bei den Pionieren Dienst tat.
Die Heizung des luftgekühlten Motors hatte kaum noch die Scheiben frei halten, geschweige denn den Innenraum erwärmen können. Gelegentlich hatten sie anhalten müssen, um die Fenster vom Schnee zu befreien. Mit fünf Stunden Verspätung waren sie bei ihren besorgten Freunden in Pinneberg angekommen. Damals gab es kein Handy, über das man sie hätte informieren können. Die Rückreise hatten sie verschieben müssen, weil der Krisenstab ein Fahrverbot ausgesprochen hatte. Ingrid hatte Ferien, aber er hatte in seiner Dienststelle in Stade anrufen und den Zwangsurlaub melden müssen.
Fasziniert betrachtete Konrad Röverkamp die Luftaufnahmen von eingeschneiten Häusern und Fahrzeugen und verfolgte Szenen, in denen Militärhubschrauber von der Außenwelt abgeschnittene Gehöfte mit Medikamenten und Lebensmitteln versorgten oder Schwangere zu Entbindungskliniken flogen und Bauern angesichts ausgefallener Melkmaschinen verzweifelt versuchten, ihre Kühe mit der Hand zu melken. Auf Autobahnen kämpften sich Bergepanzer Wege durch die weiße Wüste.
Sein Unterbewusstsein sandte ihm ein Signal, das er nicht deuten konnte. Irgendetwas aus der Sendung erinnerte ihn an ein gegenwärtiges Problem. Während auf dem Bildschirm der Pächter einer Autobahnraststätte von seinen Erlebnissen mit gestrandeten Autofahrern und Busreisenden berichtete, stellte Röverkamp den Ton ab und schloss die Augen.
Plötzlich war die Verbindung da: Die vier jungen Männer auf dem Foto dürften im Herbst 1978 zum Wehrdienst eingezogen worden sein. Während des Katastrophen-Winters waren sie irgendwo im Land stationiert. In Hannover vielleicht. Oder in Lüneburg. Als Wehrpflichtiger lebte man für das Wochenende. Dann ging es nach Hause. Egal wie weit entfernt, am liebsten zu mehreren im Auto. Vier oder fünf, manchmal auch sechs Soldaten in einem Wagen. Evers und Jensen waren erfroren. Wenn die These vom Racheakt zutraf, war die Todesart vielleicht kein Zufall. Dann hatte der Mörder nicht einfach die günstige Gelegenheit bei der CuxFrost genutzt, sondern seine Opfer ganz bewusst den Kältetod sterben lassen. Sie sollten das zumindest einmal überprüfen: Waren während des Katastrophenwinters Angehörige dieses Mannes ums Leben gekommen? Vielleicht die Eltern? Und es könnte ja sein, dass er Evers, Jensen und Ostendorff für ihren Tod verantwortlich machte.
Die weiteren Bilder der Sendung verfolgte der Hauptkommissar nur noch mit halber Konzentration. Seine Gedanken wanderten immer wieder zurück zu dieser Idee. Noch handelte es sich um eine Annahme, eine reine Arbeitshypothese. Aber je länger er darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien sie ihm. Morgen würde er mit Marie Janssen nach Informationen über Begebenheiten aus jenem Winter suchen, die sich in Cuxhaven und Umgebung zugetragen hatten. Da traf es sich gut, dass seine Kollegin über einen guten Draht zu den Cuxhavener Nachrichten verfügte. Bestimmt gab es dort ein gut
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