Eiskaltes Herz
um ihn zu vertreiben.
Lange hatte ich in den letzten Tagen mit mir gekämpft, ob ich zu Vanessas Trauerfeier gehen sollte oder nicht. Ich verspürte nicht die geringste Lust darauf, aber wenn ich nicht ging, sah es aus wie ein Eingeständnis meiner Schuld. Dass es keine »Schuld« gab, würden die wenigsten so sehen und ganz besonders nicht der harte Kern des Vanessa-Klinger-Fanklubs. Letztendlich hatte ich mir gesagt, dass ich mir nichts vorzuwerfen hatte, außer ein paar unter Alkoholeinfluss gestammelten Verwünschungen. Das war nichts, gar nichts im Vergleich zu dem, was manche Leute an unserer Schule sich so an den Kopf warfen. Was manche Mädchen hinter dem Rückenihrer besten Freundinnen tratschten. Was im Internet kursierte. Was man mir geschrieben hatte.
Ich sah mich suchend um und entdeckte Tine, Julia, Nadine und Sarah unter einem Kastanienbaum. Seitdem ich Tine vor ein paar Tagen alles von dem unfreiwillig genommenen Scratch berichtet hatte, war sie wieder zugänglicher geworden. Offenbar hatte es sich auch herumgesprochen, denn die Leute in der Schule starrten mich zwar immer noch an, aber nicht mehr so feindselig. Und doch … Es gab einen Riss, das ließ sich nicht leugnen. Ich merkte es daran, dass Nadine mich mied, dass Julia mich in Englisch nicht mehr dauernd verzweifelt nach irgendwelchen Übersetzungen fragte, und daran, wie sie mir jetzt alle vier entgegenblickten, als ich zu ihnen trat. Es herrschte die Art angespannte Stille, die mir signalisierte, dass sie wahrscheinlich gerade über mich geredet hatten.
Nadine hielt einen kleinen Strauß Maiglöckchen in der Hand, in den sie jetzt ihr Gesicht tauchte, die Augen geschlossen.
»Werdet ihr was sagen?«, fragte Sarah nervös. »Ihre Eltern haben wohl verlauten lassen, dass sie sich freuen würden, wenn Freunde etwas über Vanessa erzählen. Über ihr Leben und wie sie war und wie tief sie andere berührt hat und so.«
Tine schüttelte stumm den Kopf.
»Ihr Lieblingsspruch war von John Lennon«, meldete sich Julia unerwartet. »Life is what happens to you when …« Sie stockte.
»… you are busy making other plans«, half ich ihr aus. »Woher weißt du denn, dass es ihr Lieblingsspruch war?«
»Es stand auf ihrem Hefter«, murmelte Julia. »In Geschichte. Da saß sie vor mir.«
»Das könntest du erzählen«, ermunterte Nadine sie. »Ich sag auch was. Also, wenn ich es schaffe.« Sie zog ein kleines Taschentuch heraus und tupfte sich die Augen. »Sie war eine Inspiration. Wusstet ihr, dass sie als Ärztin nach Afrika wollte? Ein Mittel gegen Aids finden?«
Ich biss mir auf die Zähne. Ganz fest. Damit ich das hier aushielt.
Gregor kam zu uns und schlang von hinten seine Arme um Tine. Sie lehnte sich an ihn. Es war, als hätten wir Rollen getauscht. Vor nicht allzu langer Zeit wäre ich es gewesen, die sich an ihren Freund schmiegte, während Tine mit den andern Mädchen danebenstand.
Aus der Trauerhalle erklang jetzt leise klassische Musik, so traurig, dass es mir kalt den Rücken hinunterrieselte. Der Tag wurde immer schöner, die Bäume blühten üppig und duftend, die Vögel zwitscherten um die Wette, das Leben schien regelrecht zu explodieren, und dort, in der Halle, wartete der Tod.
Weiter vorn entdeckte ich kurz eine Frau mit Sonnenbrille, schwarzem Hut und starrem Gesicht. Vanessas Mutter? Ein grauhaariger Mann, der aus dem Audi neulich, stand neben ihr. Er presste geradeDaumen und Zeigefinger an die Stirn und sah nach unten. Nicht weit von ihnen entfernt befand sich Leander. Sein Blick irrte umher, ich duckte mich automatisch, aber er hatte mich bereits entdeckt. Kurz hob er die Hand, als ob er mir winken oder irgendetwas signalisieren wollte, doch dann erstarb die Bewegung und er drehte sich schnell weg. Ich fragte mich gerade, was das zu bedeuten hatte, als eine Frau uns ansprach.
»Wird einer von Ihnen etwas sagen?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Wir würden gern wissen, wie viele es noch werden.«
Wie viele es noch werden. Ihre Liste war offenbar bereits endlos lang. Die Trauerfeier würde Stunden dauern. Ich hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken und atmete so tief ein, wie ich nur konnte.
»Sie, ja?«, fragte die Frau. Sie sah mich dabei an, hatte mich offenbar total missverstanden. Alle sahen mich jetzt an. Ihre Blicke sprachen Bände, auch Tines, leider. Ich zählte nicht. Immer noch nicht, obwohl nun allseits bekannt war, dass Vanessas Tod ein tragischer Unfall gewesen war. Ein Unglück, wie es auf
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