Eiskaltes Herz
…«
Leander schloss gequält die Augen.
»Drogen«, sagte er. »Und jetzt kannst du dich nicht mehr erinnern. Wie praktisch. Dann weißt du ja auch nicht, ob du was mit Nessas Tod zu tun hast oder nicht!«
»Ich bin keine Mörderin, genauso wenig, wie ich Drogen nehme, das weißt du doch, Leander!« Meine Stimme kippte in ein Schluchzen ab. Leander sah schrecklich aus. Die Augen waren rot und von tiefen Schatten umrandet, die Haut fahl, die Haare wirr, das T-Shirt fleckig. Wo war der Rest der Familie?
Er machte einen Schritt auf mich zu. »Dann sieh mir in die Augen und schwöre mir, dass du nichts mit Nessas Tod zu tun hast. Schwöre es mir bei …«Er sah sich fieberhaft um. »Bei Kimmy. Ich hole Kimmy her und du sagst es mir vor ihr!«
»Die Polizei glaubt nicht …«
»Es ist mir egal, was die Polizei glaubt. Ich will es von dir hören.«
Wie konnte ich das vor Kimmy schwören? Ich hatte keine Ahnung, was vorgefallen war, nachdem ich vor irgendwelchen Spukhexen davongelaufen war. »Das kann ich nicht.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Eben.« Leander sah mich kalt an und in diesem Moment loderte meine Wut auf Vanessa wieder auf. Selbst nach ihrem Tod trieb sie einen Keil zwischen uns. Die verblassten Küsse, das Echo ihrer Stimme, die Erinnerung an sie, die auf immer und ewig als papierdünne Barriere zwischen uns stehen würde. Sie hatte mir nicht nur meine Zukunft mit Leander gestohlen, sondern auch meine Vergangenheit. Er hasste mich jetzt. Und damit hasste er auch alles, was es je zwischen uns gegeben hatte.
Mir fiel auf einmal etwas ein. »Wo warst du überhaupt?«, fragte ich ihn. »Du hast nicht im Zelt geschlafen, stimmt's? Ich hab es gesehen. Du kamst von zu Hause, du hattest dich umgezogen. Warum?«
»Ja, ich war zu Hause. Ich bin eher gegangen. Und du bist die Letzte, der ich sage, warum.« Trotz des scharfen Tons wirkte er hilflos. Verzweifelt. Garantiert hatten sie sich gestritten. So sehr gestritten, dass er ihr den Ohrring abgerissen hatte? Auf die Idee war ich überhaupt noch nicht gekommen.
»Hast du ihr den Ohrring abgerissen? Vor lauter Wut?« Der Typ aus dem Wald fiel mir ein, der mit der Camouflage-Hose. »Weil sie mit anderen Typen rumgemacht hat, genau vor deiner Nase?«
»Du bist abartig.« Er griff nach dem Türknauf. »Tschüss.«
»Auch wenn du es mir sowieso nicht glaubst – ich hab sie gesehen. Im Wald. Mit einem anderen.«
Im ersten Moment dachte ich, er würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen, aber er hielt inne. »Und wenn es so wäre«, sagte er. »Nessa war eben was ganz Besonderes. Du wirst das nie verstehen.«
Ich wollte nicht mehr über Vanessa reden. Plötzlich fühlte ich mich unendlich müde. »Kannst du mir bitte meine Kette holen«, fragte ich. »Dann gehe ich.«
»Deine Kette?«
»Meine Glückskette, du weißt schon. Ich habe sie nicht verloren. Sie liegt unter deinem Bett.«
»Wieso denn das?«
»Weil ich sie selbst dahin gelegt habe.« Er schien immer noch nicht zu begreifen, also musste ich wohl deutlicher werden. »Ich wollte sie mir irgendwann wiederholen. Nachdem du sie gefunden hättest. Hätte ich noch einmal einen Grund gehabt …« Ich biss mir verlegen auf die Lippe. Wie kindisch mir das jetzt vorkam. Aber das war egal. Alles war egal, denn nichts war mehr, wie es sein sollte.
»Warte hier.« Er machte die Tür vor mir zu, und das schmerzte mehr als alles andere. Leander hatteAngst, dass ich ihm ins Haus, in sein Zimmer folgen könnte. Er wollte mich draußen vor der Tür haben, ich durfte seine Welt nicht mehr betreten. Mittlerweile war es fast dunkel geworden, die Luft hatte sich abgekühlt, roch aber immer noch süß nach Flieder. Ich fröstelte. Schritte erklangen hinter der Tür, Leanders Umriss erschien wieder hinter der Glasscheibe in Kopfhöhe. Die Tür ging auf. Er hielt mir wortlos meine Kette hin, ich nahm sie entgegen, mein Finger streifte dabei seinen. Leander zuckte sofort zurück. Würde das die letzte Berührung unseres Lebens sein?
»Danke.«
Die Tür ging wieder zu und ich heulte den ganzen Weg zurück.
16
Mai
Der Platz vor der Trauerhalle war voller Leute, es schien, als ob die halbe Schule, wenn nicht sogar die halbe Stadt gekommen war. Die Beisetzung würde irgendwann in ein paar Tagen stattfinden, nur im engsten Familienkreis. Mädchen stützten sich gegenseitig, niemand redete laut, die meisten sahen nach unten, ein Blumenmeer verströmte penetrant süßlichen Geruch, kein Lüftchen wehte,
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