Eismord
Mädchen hat für eine Dreizehnjährige eine scharfe Figur. Schreckliches Gesicht. Aber ich hätte geschworen, dass sie sechzehn ist.«
»Lemur wird sich wie ein Gentleman benehmen. Ich hab über die Jahre viele junge Leute ausgebildet, und er scheint es besser zu begreifen als die meisten.«
»Mich eingeschlossen?«
»Dich eingeschlossen.«
»Das ist also der Dank, den ich bekomme.«
»Es ist doch nur vom Gentleman die Rede, Jack. Jeder Jugendliche spricht auf einen Teil des Codes stärker an als auf andere. In deinem Fall ist es vor allem Loyalität. Bei Lemur sind es Manieren.«
»Ich hab nie kapiert, wieso du bei dem Thema einen solchen missionarischen Eifer entwickelst.«
»Weil gute Manieren noch nie geschadet haben und in vielen Situationen helfen.«
»Ich versteh trotzdem nicht, wieso die so lange brauchen.«
»Jack, du lässt dich nur von der sexuellen Begierde leiten. Du weißt, dass es für dich ein Problem ist und dich unglücklich macht. Aber ich beurteile dich nicht danach, und ich hoffe, du tust es auch nicht. Du bist ein starker Mensch, ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich zu etwas hinreißen lässt.«
Jack wandte sich vom Fenster ab. Er ging an den Kühlschrank und nahm eine Dose Ginger-Ale des alten Mannes heraus, öffnete die Lasche und trank. Er wischte sich den Mund ab und sagte: »Ich hab nichts von Lust gesagt. Um ehrlich zu sein, dieses Mädchen macht mich überhaupt nicht an. Dieses Gesicht.«
»Urteilen wir nicht zu oberflächlich über das Aussehen von Leuten. Nikkis Gesicht ist völlig in Ordnung.«
»Ich sag ja auch bloß, es ist nicht nach meinem Geschmack. Ich lass mich also nicht von sexuellen Begierden leiten, das wollte ich damit nur sagen, Papa. Ich mach mir Gedanken. Wir sollen aufeinander aufpassen, und ich mach mir Sorgen um Nikki.«
»Solange Nikki bei Lemur ist, droht ihr keine Gefahr.«
»Meine Sorge gilt Lemur.«
»Dann kennst du dich mit der menschlichen Natur nicht aus. Und mit Lemur auch nicht.«
Jack trank den Rest des Ginger-Ales und zerdrückte die Dose in der Faust. »Lemur hier, Lemur da. Was hat er denn je getan? Was hast du dich so mit der kleinen Schwuchtel?«
»Jack, bitte, wir gebrauchen keine Schimpfwörter für einander. Du hast Jahre in Anstalten verbracht – hab ich dich jemals Spinner genannt?«
»Nein.«
»Irre? Gestört? Plemplem? Hab ich nicht. Genauso wenig wie irgendjemand sonst in dieser Familie, jetzt oder in Zukunft. Weil wir dich respektieren, Jack. Und wir respektieren deine Fähigkeit, dich genauso zu verhalten.«
Jack hatte das Bedürfnis, dagegenzuhalten, fand das Ganze irgendwie nicht fair. Andererseits war auch eine Menge dran, und er hatte Gewissensbisse, Papa zu enttäuschen, die Familie zu enttäuschen. Nach einer Weile sagte er: »Du hast immer zu mir gesagt, Loyalität wäre das Wichtigste. Und jetzt auf einmal reitest du ständig auf Manieren rum.«
»Loyalität ist Lemurs zweite Natur. An seinen Manieren dagegen mussten wir mächtig arbeiten. Als wir ihn aufgenommen haben – erinnerst du dich nicht? –, bekam man von ihm kaum was anderes zu hören als ›scheiß drauf‹ und ›Hurensohn‹, und jetzt ist er ein Muster an höflicher Sprache. Bei dir war immer Loyalität ein wunder Punkt. Lemur ist wie ein Jagdhund, aber du – du bist wie ein Wildhengst. Großartig, ja, aber immer in Gefahr, bei der erstbesten Gelegenheit davonzugaloppieren.«
»Du zweifelst an meiner Loyalität? Nach allem, was ich gerade für dich getan habe? Alles, was du gesagt hast, buchstabengetreu – das Wie und das Wann. Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was mich das gekostet hat?«
Papa stand auf und breitete die Arme aus. Jack zögerte, bevor er näher trat und Papa ihn fest umarmte. »Jack, dein Mut ist über jeden Zweifel erhaben. Du bist ein Samurai. Unser Krieger. Unser Ritter. Irgendein Dichter hat gesagt: ›Einsam sind die Tapferen.‹ Na ja, nicht unter meinem Dach. Du bist für diese Familie unverzichtbar, und ich würde dir mein Leben anvertrauen, Jack. Mein Leben.« Papa trat zurück, ohne Jacks Schulter loszulassen. »Wenn es darum geht, Jack – wenn es darum geht, wer den meisten Mumm hat –, da stichst du mich, glaube ich, aus. Vielleicht widerlege ich mich ja eines Tages noch, aber ich glaube, eher nicht.«
Jack fühlte sich nicht mutig. Sonst hätte er Papa zum Beispiel erzählt, dass ein Mädchen, irgendeine Jugendliche, ihn draußen an dem Haus gesehen und so aus dem Konzept gebracht hatte, dass
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