Eismord
er vor lauter Panik nicht mehr geradeaus denken konnte. Er hätte sie umlegen – überfahren, erschießen, was auch immer – sollen, doch das hatte nicht zum Plan gehört, und so war er einfach nur in Panik geraten. Doch das brachte er nicht über die Lippen. Er machte einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wann muss Lemur seine große Prüfung bestehen? Gehört schließlich schon ’ne ganze Weile zur Familie. Soll er den alten Mann umlegen?«
»Wenn ich ihn darum bitte, wird er es tun.«
»Meinst du? Würde nicht allzu viel drauf geben.«
Papa lächelte. »Weil du ein Mann der Tat bist. Menschen zu verstehen, das ist nicht unbedingt deine Stärke.«
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21
D er Kriminelle, der sich Papa nannte, hatte Lloyd Kreeger wieder in sein Schlafzimmer gesperrt, nachdem er alles entfernt hatte, was unter »scharfen Gegenständen« zu verstehen war. Das zumindest war eine Verbesserung. Zwar waren Lloyd immer noch die Hände vorn mit Plastikbändern gefesselt, doch das schränkte ihn nicht gar zu sehr ein. Er hatte ein bequemes Bett und jede Menge Lesestoff, doch er musste unentwegt an Henry denken. Selbst Charles Dickens konnte ihn nicht daran hindern, das Schlimmste zu befürchten.
Er versuchte, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob es in dieser Situation Hoffnung für ihn gab oder ob er einen Fluchtversuch und eine Kugel in den Kopf riskieren sollte, als dieser »Papa« wiederkam und ihn erneut in sein Kellerbüro führte.
Dieser seltsame Mann kannte inzwischen einige von Lloyds Passwörtern und hatte sich außerdem eine Reihe verschiedener Kontonummern notiert. Jetzt saßen sie nebeneinander auf Bürostühlen, als brächte der eine dem anderen etwas über Software bei.
»Sehen Sie mal, was ich gefunden habe, Lloyd.«
Lloyd beugte sich vor, um sich den Bildschirm anzuschauen. Seine New Yorker Anlagekonten. »Eine Discountbroker-Website«, sagte er.
»Ich weiß, was das ist, Lloyd. Ich wollte damit nur sagen, dass Sie mir diese Konten verschwiegen haben. Zusammengerechnet belaufen sich diese verschiedenen Fonds auf ein paar hunderttausend US -Dollar.«
»An die habe ich nicht gedacht. Die wurden vor, glaube ich, dreißig Jahren angelegt, als ich in New York tätig war. Ich geh da nie ran.«
»Ich weiß. Ich hab Ihre Transaktionschronik überprüft. Aber Sie haben mir nichts davon erzählt. Das ist der Punkt.«
»Ich hatte sie nur aus dem Blick verloren.«
»Die schicken Ihnen monatlich Auszüge, die Sie in diesen ordentlichen blauen Ordnern abheften, das habe ich herausgefunden. Sie verheimlichen mir einiges, Lloyd. Sie beschummeln mich. Ich versuche, Ihnen entgegenzukommen, ich bringe Sie wieder in Ihrem Zimmer unter, ich mach’s Ihnen so bequem wie möglich …«
»Sie stehlen mir alles, was ich habe …«
Der Blick, den der Mann auf ihn richtete, verriet nichts weiter als milde Enttäuschung. Er wandte sich wieder dem Computerbildschirm zu. »Na ja, wir brauchen sie ja einfach nur leerzuräumen, nicht wahr.«
»Die sind für meine Enkel. Meine Tochter hat drei Kinder, die alle zur gleichen Zeit studieren werden. Sie ist Korrektorin, ihr Mann freischaffender Journalist. Ich glaube kaum, dass sie zusammen mehr als fünfzig Riesen im Jahr machen. Diese Fonds sind fürs Studium der Kinder gedacht.«
»Irgendwie lässt mich das System nichts verschieben.«
»Also, da kann ich Ihnen auch nicht helfen, wie gesagt, ich hab diese Fonds seit damals nicht mehr angerührt. Ich hab keinen Schimmer, was man da machen muss.«
Der Mann zog seine Waffe aus dem Holster, zielte auf eine Lampe und drückte ab. Der Lampenfuß zersplitterte, und es hallte in Lloyds Ohren, als wären sie aus Messing.
»Strengen Sie sich an«, sagte der Mann. »Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das Problem zusammen lösen.«
Manchmal hatte Nikki das Gefühl, dass diese »Familie« echt war und nicht nur ein Hirngespinst oder ein Spiel. Heute Abend war eine solche Gelegenheit. Papa hatte sie alle drei gebeten – gebeten, nicht aufgefordert –, den Fernseher nicht einzuschalten. Sie sollten ein Feuer machen, ein richtig großes, während er mit dem alten Mann unten war, und er wollte sich ein wenig später zu ihnen gesellen.
»Und was dann?«, hatte Jack gefragt.
»Ihr konzentriert euch auf dieses Feuer und erzählt euch gegenseitig alles, was ihr seht.«
Was Nikkis Meinung nach toll gelaufen war. Jack hatte ein mächtiges Feuer gemacht, indem er dicke Holzscheite über Kreuz
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