Eismord
Außerhalb der Familie kriegst du nicht viel davon, und ich auch nicht. Jedenfalls noch nicht.«
Nikki mochte dieses Gerede über Respekt nicht. Das Einzige, was die Leute je an ihr respektiert hatten, war ihr Hintern. Sobald sie ihr Gesicht zeigte, sah die Sache anders aus. Sie zog sich hoch, so dass sie auf dem Ast saß. Das Blut wich ihr aus dem Kopf, und ihr wurde schwindlig. Sie blickte zu der Stelle hinauf, zu der sie geklettert war, um das Seil um einen hohen Ast zu schlingen. »Ich kann nicht glauben, dass ich da rauf bin. Ich bin zuletzt als Kind auf Bäume geklettert.«
»Du bist dreizehn. Du bist immer noch ein Kind.«
»Du bist drei Jahre älter, ich bin mächtig beeindruckt.«
»Wirf mir den Strick zu und dann komm runter.«
»Ich sag doch, ich weiß nicht, wie.« Sie ließ das Seil los, und es glitt zwischen den Zweigen hinunter.
»Schwing dich einfach runter und häng dich mit den Händen an den Ast.«
»Ach ja? Und wenn ich mir beim Springen den Knöchel breche? Papa bringt dich um. Du sollst mich beschützen.«
»Du gehörst zur Familie, Nikki, ich werde dich immer beschützen. Aber du musst auch für dich selbst Verantwortung übernehmen.«
Ohne loszulassen, rutschte Nikki wieder hinunter, so dass sie fast, den Kopf nach unten, an Händen und Füßen hing. Dann ließ sie mit den Knöcheln los und hing nur noch an den Händen, und die kalte Rinde schnitt ihr in die Finger. Sie baumelte eine Weile und fühlte, wie sich ihr ganzer Körper bis zu den Zehenspitzen dehnte. Wieder spürte sie die kalte Luft am Bauch. Sie wollte, dass Lemur sie da berührte. Nach acht Monaten bei dieser abgefahrenen Familie wusste sie immer noch nicht, wie sie mit einem männlichen Wesen umgehen sollte, das nicht versuchte, sie zu ficken. Wenn sie sich im Dunkeln hinlegten, konnten sie ihr blödes Gesicht nicht sehen.
»Du entblößt dich schon wieder.«
»Sei nicht so ein Vollidiot. Ich hänge an einem scheiß Baum.«
»Du musst auf dich selber aufpassen, Nikki. Achte auf deine Sprache. Und darauf, wie du dich zeigst. Männer haben starke Begierden.«
»Du nicht. Jedenfalls nicht nach Mädchen.«
»Fang nicht schon wieder damit an. Ich versuch, nett zu dir zu sein.«
»Ich weiß alles über die Begierden von Männern«, keuchte sie. »Ich möchte wetten, ihr habt euch alle totgelacht, als Papa mich in dieser Nacht aufgenommen hat.« Sie ließ los und traf unsanft mit den Füßen auf dem Boden auf, so dass sie nach hinten taumelte.
Lemur hielt sie mit kräftigem Griff an den Oberarmen fest.
»Du kannst mich jetzt loslassen, Perversling.«
»Niemand hat über dich gelacht«, sagte Lemur. »Als er dich mitgebracht hat, da hat Papa gesagt: ›Nikki hat nur getan, was sie tun musste, um zu überleben. Ich dulde nicht, dass jemand sie dafür kritisiert.‹«
Nikki äffte Papas Ton nach. »Ich dulde nicht, dass sie jemand dafür kritisiert.«
Lemur lächelte. Er hatte ein nettes Lächeln – mit der Lücke zwischen seinen Schneidezähnen wirkte er wie ein Kind –, aber er zeigte es selten. »Okay, ich binde das jetzt an die Hinterachse.«
Ohne auf den Schnee zu achten, legte sich Lemur auf den Rücken und rutschte unter den Range Rover. Nikki sah nur noch seine Beine und den Strick, der neben ihm zuckte, während er ihn befestigte. Sie überlegte einen Moment, ob sie ihm in den Schritt greifen und sich hier im Schnee über ihn hermachen sollte, um herauszufinden, wie schwul er tatsächlich war.
»Wozu tun wir das hier überhaupt?«, fragte sie seine Beine. »Welcher Mensch, der halbwegs bei Trost ist, kommt hier raus?«
Lemur kroch unter dem Wagen hervor, stand auf und klopfte sich den Schnee von der Hose. »Wenn du Papa ausquetschen willst, tu dir keinen Zwang an, aber vielleicht ist dir schon mal aufgefallen, dass du, wenn du in dieser Familie bleiben willst, nicht allzu viele Fragen stellen solltest.« Er stieg in den Range Rover und ließ den Motor an. Dann kurbelte er die Scheibe herunter und sagte: »Gib mir Bescheid, wenn der Stein ungefähr sechs Meter in der Luft ist.«
Der Wagen fuhr im Schritttempo nach vorn und zog den Strick straff. Der riesige Felsbrocken, den Lemur mit vielen komplizierten Knoten am anderen Ende befestigt hatte, erhob sich langsam in die Luft. Als er ungefähr sechs Meter hoch hing, rief sie: »Stopp!«
Lemur stieg aus und zeigte ihr, wie man die Schlinge band und so anbrachte, dass jemand, der ahnungslos vorbeikam, in die Falle tappte. »So, jetzt probieren wir es mal
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