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Eisnacht

Eisnacht

Titel: Eisnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Brown
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einer dreidimensionalen Weihnachtskarte. Die Zweige der Nadelbäume waren schwer mit Schnee beladen. Die nackten Äste der Laubbäume stachen schwarz aus dem weißen Hintergrund hervor. Die Strahlen der Morgensonne erreichten gerade die obersten, im böigen Wind schwankenden Baumwipfel. Aber unten am Waldboden war es dunkel und still.
    Es war eine natürliche Kathedrale, ein Tempel der Natur. Sie wünschte sich, sie könnte länger verweilen und die stille Heiterkeit genießen, die über diesem Ort lag. Aber schon bald wurden die Zehen in ihren Stiefeln taub und riefen ihr in Erinnerung, dass dies, so schön der Ort auch war, trotzdem wilde Natur war, die todbringend sein konnte, wenn man sich nicht absicherte.
    Dem Trampelpfad folgend, gelangte sie zum Schuppen. Der Schnee hatte sich an den Außenwänden zu hohen Wehen aufgetürmt, aber als Tierney die Tür aufgezwungen hatte, hatte er dabei den Schnee zur Seite geschoben, und seither war der Zugang teilweise frei.
    Sie stapfte durch die Verwehung, die sich in der Zwischenzeit angesammelt hatte, und griff nach dem Riegel. Obwohl sie kräftig daran zog, ging die Tür nicht auf. Sie rührte sich nicht einmal. Sie zerrte mehrmals daran, doch der Riegel schien wie festgefroren. Dann versuchte sie es noch einmal, diesmal mit all ihrer Kraft. Als die Tür aufsprang, geschah das so unvermutet, dass Lilly davon überrascht wurde. Sie taumelte einen Schritt zurück und wäre um ein Haar hingefallen.
    Über ihr eigenes Ungeschick verärgert, trat sie in den Schuppen. Drinnen war es dunkler, als sie erwartet hatte. Sie schalt sich, dass sie nicht daran gedacht hatte, die Taschenlampe mitzunehmen, weil sie nur schnell die Axt holen und wieder gehen wollte. Im Schuppen gab es immer Spinnen. Wahrscheinlich auch Mäuse. Jedes Mal, wenn sie ihn betreten hatte, hatte sie Angst gehabt, eine Schlange aufzuschrecken.
    Obwohl heute bestimmt alle einigermaßen vernünftigen Kreaturen in ihren Nestern schlummerten, löste allein das gespenstische Zwielicht eine Gänsehaut bei ihr aus. Außerdem lag der unangenehm muffige Geruch eines Gebäudes ohne betonierten Boden in der Luft.
    Sie ließ ihren Augen Zeit, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen, und sah sich dann um. Die Axt war nirgendwo zu sehen, aber sie wusste, dass sie in der Werkzeugkiste liegen musste.
    Der eigene Atem hallte ihr laut im Ohr. Es war noch kein richtiges Pfeifen, aber nahe dran. Vielleicht war es nicht besonders klug gewesen hierherzulaufen. Normalerweise wäre der Weg nicht gefährlich oder auch nur besonders anstrengend. Aber in Anbetracht der heftigen Asthmaattacke von gestern und der arktischen Temperaturen hätte sie nichts unternehmen sollen, was an ihren Kräften zehrte. Ein Grund mehr, die Axt so schnell wie möglich zu holen und in die Hütte zurückzukehren. Zu Tierney. Ins Bett zu Tierney.
    Sie konnte sich nicht entsinnen, dass der Deckel der riesigen Holzkiste so schwer war. Der erste Anlauf, ihn anzuheben, schlug fehl. Sie konnte ihn gerade einen Fingerbreit anheben, ehe sie erschöpft aufgab. Falls sie hier draußen eine Attacke bekam, würde Tierney ihr ordentlich die Leviten lesen.
    Sie ging in die Knie und stemmte beide Handballen gegen die Deckelkante. Indem sie ihre Knie durchbog und ihre ganze Kraft einsetzte, gelang es ihr, den Deckel anzuheben und hochzuklappen. Als er senkrecht stand, kippte er unter seinem eigenen Gewicht gegen die Wand dahinter, bevor Lilly ihn festhalten konnte.
    Er prallte mit einem lauten Krachen auf, das sie nicht mehr hörte.
    Weil sie da bereits in Millicent Gunns tote, milchige Augen starrte.
    Mit einem lauten Seufzen wich alle Luft aus ihren Lungen, doch als sie wieder einzuatmen versuchte, um einen gellenden Schrei auszustoßen, hatten sich ihre Bronchien bereits zusammengezogen. Nur ein dünnes Säuseln kam über ihre Lippen.
    Ohne zu überlegen taumelte sie von diesem grauenvollen Anblick zurück, um instinktiv die Flucht zu ergreifen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und erstarrte, als sie Tierneys Silhouette in dem hellen Rechteck der offenen Tür stehen sah.
    Ihr Gehirn registrierte alles auf einmal. Er hatte Jeans und Stiefel angezogen, aber unter dem offenen Mantel sah sie seine nackte Brust. Sie hob und senkte sich hektisch. Er war außer Puste. Er war hergerannt, »Tierney«, keuchte sie. »Millicent…«
    »Das hättest du auf keinen Fall sehen dürfen.« Da begriff sie in einem Augenblick gleißend heller geistiger Klarheit, warum sein Gesicht so hart und

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