Eisnacht
mussten es tun, sonst wäre sie gestorben.«
»Das verstehe ich«, sagte Dutch. »Und wahrscheinlich versteht das sogar Millicent. Aber wäre es trotzdem möglich, dass sie deswegen böse auf Sie ist?«
Man hatte bei dem Mädchen Magersucht diagnostiziert, außerdem litt sie an Bulimie. Man musste ihren Eltern zugute halten, dass sie sich bis über beide Ohren verschuldet hatten, um Millicent zur Therapie und zur psychiatrischen Beratung in eine Klinik in Raleigh zu schicken, als der Zustand des Mädchens lebensbedrohlich wurde.
Nach drei Monaten war Millicent für geheilt erklärt und heimgeschickt worden. In der Stadt ging das Gerücht um, dass sie direkt nach ihrer Entlassung ihre Fress und Kotzorgien wieder aufgenommen hatte, aus Angst, dass sie aus dem Cheerleader-Team der Highschool fliegen könnte, wenn sie zu viel Gewicht ansetzte. Sie war schon seit der sechsten Klasse Cheerleader und wollte nicht ausgerechnet in ihrem Abschlussjahr aus der Mannschaft fliegen.
»Sie hat sich gut gemacht«, sagte ihr Vater. »Sie wurde mit jedem Tag gesünder und kräftiger.« Er sah Dutch bohrend an. »Außerdem wissen Sie so gut wie ich, dass sie nicht durchgebrannt ist. Sie wurde entführt. Am Lenkrad hing ein blaues Band.«
»Diese Information ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt«, ermahnte ihn Dutch. Bei allen Frauen war ein blaues Band am wahrscheinlichen Ort der Entführung zurückgelassen worden, aber diese Tatsache wurde vor den Medien geheim gehalten. Wegen der Bänder bezeichneten sie den unbekannten Entführer intern als »Blue«.
Das Handy an Dutchs Gürtel vibrierte, aber er nahm den Anruf nicht an. Dies war ein wichtiges Thema. Wenn das mit dem blauen Band an die Öffentlichkeit drang, konnte er darauf wetten, dass die Bundesheinis glauben würden, die Sache sei aus Dutchs Department durchgesickert. Vielleicht war sie das wirklich. Natürlich war sie das. Trotzdem würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um den Schaden zu begrenzen und um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen.
»Verdammt noch mal jeder weiß das, Dutch«, widersprach Mr Gunn. »So was lässt sich nicht geheim halten, vor allem nachdem dieser Drecksack inzwischen fünfmal ein Band hinterlassen hat.«
»Wenn jeder von dem blauen Band weiß, dann weiß höchstwahrscheinlich auch Millicent davon. Sie hätte das Band selbst anbringen können, um uns glauben zu lassen…«
»So ein Scheißdreck!«, Fiel ihm Ernie Gunn ins Wort. »Nie im Leben wäre sie so grausam und hätte uns solche Angst eingejagt. Nein, Sir, Blue hat Millicent entführt. Das wissen Sie genau. Sie müssen da raus und sie finden, bevor er…« Seine Stimme versagte. Tränen standen in seinen Augen.
Mrs Gunn unterdrückte ein weiteres Schluchzen. Trotzdem ergriff sie als Nächste das Wort. Ihre Miene war verhärmt. »Wir haben geglaubt, dass jemand, der aus dem Police Department von Atlanta kommt, diesen Mann fangen kann, bevor er Millicent oder irgendein anderes Mädchen schnappen kann.«
»Ich habe im Morddezernat gearbeitet, nicht im Vermisstendezernat«, erklärte Dutch gepresst.
Er hatte volles Mitgefühl mit diesen Menschen und das Menschenmögliche getan, um ihre Tochter zu finden, aber sie schätzten seine Arbeit trotzdem nicht. Sie erwarteten ein Wunder von ihm, nur weil er früher Großstadtpolizist gewesen war.
Im Moment fühlte er sich so mies, dass er sich fragte, warum er diesen Job verflucht noch mal angenommen hatte. Als ihm der Stadtrat - angeführt von Wes Hamer - die Stelle angeboten hatte, hätte er antworten sollen, dass er erst Polizeichef würde, wenn sie den Serienkidnapper gefunden hatten.
Aber er hatte die Stelle gebraucht. Vor allem hatte er aus Atlanta verschwinden müssen, wo ihn Lilly persönlich und das Department beruflich gedemütigt hatten. Seine Scheidung war im gleichen Monat in Kraft getreten, in dem ihn das Department rausgeworfen hatte. Zugegeben, es hatte da einen gewissen Zusammenhang gegeben.
Gerade als er den absoluten Tiefpunkt erreicht hatte, war Wes nach Atlanta gekommen, um ihm das Angebot zu unterbreiten. Er hatte Dutchs darbendes Ego wieder aufgebaut, indem er ihm erklärt hatte, dass seine Heimatstadt dringend einen hartgesottenen Bullen mit Erfahrung brauchte.
Niemand beherrschte diese Art von Aufmunterungsansprache so wie Wes. Es war das Halbzeit-Umkleidekabinen-Geschwafel, mit dem er auch sein Team anfeuerte. Obwohl Dutch Wes sofort durchschaut hatte, hatte er ihm gern zugehört, und ehe er recht
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