Eisnacht
winkte. »Setzen Sie sich, und ziehen Sie die Stiefel aus.«
Sie setzte sich neben ihn und zog erst die Handschuhe aus, bevor sie die nassen Füße aus den nassen Stiefeln zerrte. »Sie wussten von vornherein, dass meine Füße darin nicht trocken bleiben würden.«
»Davon konnte man ausgehen.«
Ihre Socken waren nass, genauso wie die Hosenbeine von den Knien abwärts. Sie hatte ihre Kleidung nach modischen Gesichtspunkten ausgewählt, nicht danach, wie gut sie vor einem Blizzard schützte. Er tätschelte seinen Schenkel. »Legen Sie Ihr Bein da drauf.« Lilly zögerte kurz, bevor sie ihr Bein über seine Schenkel legte. Er streifte die dünne Socke ab. Sie meinte ihren eigenen Fuß nicht wiederzuerkennen. Er war weiß wie Schnee und vollkommen blutleer. Tierney drückte ihn mit beiden Händen und begann ihn kräftig zu kneten. »Das wird wehtun«, warnte er sie. »Tut es schon.«
»Wir müssen die Durchblutung wieder ankurbeln.«
»Haben Sie jemals was darüber geschrieben, wie man in einem Blizzard überlebt?«
»Nicht aus eigener Erfahrung. Jetzt ist mir klar, wie überheblich und uninformiert der Artikel war. Schon besser?«
»Meine Zehen stechen.«
»Das ist ein gutes Zeichen. Das Blut kehrt zurück. Sehen Sie? Sie werden schon wieder rosa. Jetzt den anderen Fuß.«
»Was ist mit Ihren Füßen?«
»Die können warten. Meine Stiefel sind wasserfest.« Lilly tauschte die Beine. Er schälte auch die andere Socke ab , schloss wieder die Hände um ihren Fuß und begann das Blut ins Fleisch zu massieren. Wenn auch nicht ganz so kraftvoll wie zuvor. Er kniff sie probeweise in jeden Zeh. Sein Daumenballen folgte der Höhlung ihres Spanns bis zum Fußballen und zurück bis zum Absatz.
Lilly beobachtete seine Hände. Er beobachtete seine Hände. Keiner sprach ein Wort.
Schließlich bettete er ihren Fuß zwischen beide Handflächen. Er drehte ihr den Kopf zu und war ihr plötzlich so nahe, dass sie sehen konnte, an welchen Wimpern noch Tropfen hingen. »Besser?«, fragte er.
»Viel besser. Danke.«
»Gern geschehen.«
Er machte keine Anstalten, ihren Fuß loszulassen, sondern überließ es ihr, ihn aus seinem Griff zu ziehen. Sie hob das Bein von seinen Schenkeln. Dass sie ein trockenes Paar Socken aus ihrer Manteltasche holen wollte, ermöglichte es ihr, ohne Verlegenheit von dem Sofa aufzustehen.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er sich vorbeugte und die Schnürsenkel seiner Wanderstiefel löste. Auch danach blieb er vornübergebeugt sitzen. Er stützte den Ellbogen aufs Knie und ließ den Kopf in die Hand sinken.
»Wird Ihnen wieder übel?«, fragte sie.
»Ich glaube nicht. Mir war nur schwindlig. Das vergeht wieder.«
»Wahrscheinlich haben Sie eine Gehirnerschütterung.«
»Nicht nur wahrscheinlich.«
»Das tut mir wirklich leid.«
Das Bedauern in ihrem Tonfall ließ ihn aufsehen. »Warum sollte Ihnen das leid tun? Wäre ich nicht gewesen, hätten Sie ihren Wagen nicht zu Schrott gefahren.«
»Ich konnte kaum etwas hinter der Motorhaube erkennen. Plötzlich standen Sie da, direkt vor meinem Wagen, und…«
»Ich bin genauso schuld wie Sie. Ich habe Ihre Scheinwerfer um die Kurve kommen sehen. Weil ich meine letzte Hoffnung auf eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt nicht verpassen wollte, bin ich einfach losgerannt. Ich habe beim Abwärtslaufen zu viel Schwung bekommen. Und ehe ich mich versehe, stehe ich nicht an der Straße, sondern auf der Straße.«
»Es war dumm von mir, so stark zu bremsen.«
»Ein Reflex.« Er zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls brauchen Sie sich keine Vorwürfe zu machen. Vielleicht hatte es etwas Gutes, dass sich unsere Wege kreuzten.«
»Wahrscheinlich haben Sie mir das Leben gerettet. Wäre ich allein gewesen, wäre ich im Auto geblieben und bis morgen früh erfroren.«
»Dann hatten Sie wohl Glück, dass ich vorbeigekommen bin.«
»Was haben Sie allein zu Fuß auf dem Gipfel gemacht?«
Er beugte sich vor und begann den rechten Stiefel vom Fuß zu zerren. »Die Aussicht genossen.«
»Heute?«
»Ich war auf einer Wanderung.«
»Obwohl ein Sturm angesagt war?«
»Die Berge haben im Winter ihren ganz eigenen Reiz.« Er zog den zweiten Stiefel aus, warf ihn beiseite und begann seine Zehen zu massieren. »Als ich mich auf den Rückweg in die Stadt machen wollte, sprang mein Wagen nicht mehr an. Die Batterie ist leer, schätze ich. Jedenfalls beschloss ich, den Weg durch den Wald abzukürzen, statt der Straße mit ihren vielen Kurven und Windungen zu
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