Eisnacht
sich bringen.
»Kommen Sie mit nach hinten. Wir unterhalten uns in meinem Büro. Hat Ihnen jemand Kaffee angeboten? Er ist zäh und schwarz wie Straßenteer, aber dafür ist er fast immer heiß.«
»Nein danke«, lehnte Ernie Gunn für sie beide ab. Sobald sie vor dem Schreibtisch in seinem Büro saßen, sah Dutch sie ernst und bedauernd an. »Leider kann ich Ihnen nichts Neues mitteilen. Wir mussten die Suche aus offensichtlichen Gründen abbrechen.« Er deutete aufs Fenster.
»Noch vor dem Sturm haben wir allerdings Millicents Wagen zur Verwahrstelle des Countys transportiert. Wir werden alle Spuren sammeln, die wir finden können, aber es gibt keine Hinweise auf einen Kampf.«
»Wie zum Beispiel?«
Dutch rutschte auf seinem Stuhl herum und warf Mrs Gunn einen kurzen Blick zu, ehe er die Frage ihres Mannes beantwortete. »Abgebrochene Fingernägel, Haarbüschel, Blut.« Mrs Gunns Kopf wackelte auf dem dürren Hals hin und her. »Eigentlich sind das gute Neuigkeiten«, fuhr Dutch fort. »Meine Männer und ich versuchen immer noch zu ermitteln, was Millicent an ihrem letzten Arbeitstag abends unternommen hat. Wir reden mit jedem, der sie im oder vor dem Laden gesehen hat. Leider mussten wir die Befragung heute Nachmittag unterbrechen, auch das wegen des Sturms.
Von Special Agent Wise habe ich auch nichts Neues gehört«, fuhr er fort, um ihre nächste Frage vorwegzunehmen. »Er wurde vor ein paar Tagen nach Charlotte zurückberufen, müssen Sie wissen. Dort gibt es einen anderen Fall, bei dem er gebraucht wird. Aber bevor er losgefahren ist, hat er mir versichert, dass er weiterhin aktiv an Millicents Fall arbeitet und dass er da drüben in der Zentrale in den Datenbanken ein paar Sachen überprüfen will.«
»Hat er genau gesagt, was?«
Dutch gab nur ungern zu, dass Wise - wie alle diese Hurensöhne vom FBI - mit Auskünften geizte. Besonders schweigsam waren die Bundespolizisten gegenüber einfachen Polizeichefs, die sie für primitive, inkompetente Versager hielten. Wie den hier anwesenden.
»Soweit ich weiß, haben Sie ihm Millicents Tagebuch überlassen«, sagte er.
»Genau.« Mr Gunn wandte sich seiner Frau zu und packte aufmunternd ihre Hände. »Vielleicht findet Mr Wise irgendwas darin, das uns zu ihr führt.«
Dutch setzte sofort nach. »Die Möglichkeit besteht durchaus. Vielleicht ist Millicent aus eigenem Antrieb abgetaucht.« Er hob die Hand, um ihre Proteste abzuwehren. »Ich weiß, das war meine erste Frage, als Sie Ihre Tochter vermisst gemeldet haben. Sie hielten das für ausgeschlossen. Aber hören Sie mich an.«
Er bedachte beide mit seinem besten Besorgter-Bulle-Blick. »Es ist durchaus möglich, dass Millicent etwas Zeit für sich braucht. Vielleicht hat ihr Verschwinden gar nichts mit den anderen Vermisstenfällen zu tun.« Er wusste selbst, dass das äußerst unwahrscheinlich war, aber trotzdem war es ein Gedanke, der ihnen Hoffnung schenken konnte.
»Aber ihr Auto.« Mrs Gunns Stimme war so leise, dass Dutch sie kaum hören konnte. »Das stand immer noch auf dem Parkplatz hinter dem Laden. Wie hätte sie ohne ihr Auto wegfahren können?«
»Vielleicht hat ein Freund oder eine Freundin sie mitgenommen«, sagte Dutch. »Und weil ihr Verschwinden in der ganzen Stadt eine Panik ausgelöst hat, scheut der oder diejenige jetzt davor zurück, sich zu melden und alles zu erklären, aus Angst, genau wie Millicent in Schwierigkeiten zu kommen, weil wir fast verrückt vor Angst sind.«
Mr Gunn zog zweifelnd die Stirn in Falten. »Natürlich gab es Probleme mit Millicent, bei welchem Teenager gibt es die nicht, aber ich glaube nicht, dass sie uns nur aus Trotz so wehtun würde.«
Mrs Gunn sagte: »Sie weiß, dass wir sie lieben, sie weiß, wie viel Angst wir hätten, wenn sie einfach so durchbrennen würde.« Ihre Stimme versagte bei den letzten Worten, und sie presste ein durchnässtes Kleenex gegen ihre Lippen, um das Schluchzen zu unterdrücken.
Ihr Leid war schmerzlich mit anzusehen. Dutch schaute konzentriert auf seinen Tintenlöscher und ließ ihr ein paar Sekunden, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Mrs Gunn, ich bin überzeugt, dass sie tief im Herzen weiß, wie sehr Sie sie lieben«, versicherte er ihr freundlich. »Aber soweit ich gehört habe, war Millicent nicht gerade begeistert von der Klinik, in die Sie sie letztes Jahr geschickt haben. Sie haben Ihre Tochter zwangsweise einweisen lassen, nicht wahr?«
»Freiwillig wäre sie nicht hingegangen«, sagte Mr Gunn. »Wir
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