Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
ein parallel existierendes Stück Stadt, das eine Spur neben dem Rest fährt. So ist das hier immer. Das Karoviertel ist jetzt gar nicht großartig anders als andere Straßenzüge auf Sankt Pauli. Jugendstilhäuser, zugestückelte Bombenlöcher, Kneipen, Cafés, ein paar schicke Läden und ein paar weniger schicke, man kann Klamotten kaufen und Platten, Schuhe und Geschenke, Kaffee und Kakao, alles in alt und in neu. Es sind eher die Kleinigkeiten, die das Karogefühl ausmachen. Besser: das Kleine. Dass es ein abgeschlossenes Viertel ist, in nur fünf oder sechs Straßenzügen. Ein eigener urbaner Organismus. Die Marktstraße ist die Hauptstraße, da ist alles dicht an dicht, da gibt es im Erdgeschoss keinen Meter, der nicht auch ein Schaufenster für was auch immer wäre. Die drei wichtigsten Querstraßen, die Karolinenstraße, die Glashüttenstraße und die Turnerstraße machen’s fast genauso. Eine insgesamt freundliche Mischung aus Neuem und aus Läden, die schon seit über zwanzig Jahren aufhaben. Und jede Bar, jedes Café, liegt es auch noch so mittendrin, tut, als wäre es eine Eckkneipe. Eine bedeutende Eckkneipe an einem wichtigen Platz. Das Karoviertel nimmt sich ernst und hat sich selber lieb. Das ist selten geworden unter zynischen, durchironisierten Großstädtern. Das ist etwas Schönes. Und zu guter Letzt muss man das Karoviertel fast überhaupt nicht verlassen, wenn man hier wohnt. Eigentlich nur dann, wenn man mal zu Budnikowsky will. Der Drogeriemarkt, den es in Hamburg an fast jeder Kreuzung gibt und der mehr eine Stammkneipe als ein Drogeriemarkt ist, ist das Einzige, was man im Karoviertel nicht finden kann. Aber sonst ist hier von allem alles. Ich schwöre.
Und dann noch das Licht, das sie im Karoviertel machen. Das ist hier gelblicher, wärmer, altmodischer als woanders. Ich bin mir fast sicher: Die verwenden heimlich hübschere Glühbirnen. Die importieren sie aus Paris oder Marseille. Außerdem hat das Karoviertel für einsame Spaziergängerinnen wie mich in diesen Tagen einen entscheidenden Vorteil: Weihnachten findet so gut wie nicht statt.
Es sind nur noch vier Tage bis Heiligabend, und das Unbehagen sitzt mir unter der Haut wie eine dünne Schicht zersplitterter Lichterketten. Sticht sich in mein Bewusstsein, egal, in welche Richtung ich mich bewege. Überall in der Stadt treffe ich seit Wochen auf glitzernde Zweige, rührselige Gesichter und zu viel Lametta. An manchen Tagen habe ich das Gefühl, als würde ich von Engeln gejagt. Aber jetzt bin ich schon die ganze Marktstraße langgelaufen und habe noch keinen einzigen Stern, keinen Tannenbaum, kein Rentier und keinen Nikolaus gesehen. Nicht eine kleine Christbaumkugel. Hier scheint sich niemand großartig für das Thema zu interessieren. Keine Ahnung, woran das liegt. Untermauert aber natürlich meine Theorie vom Paralleluniversum Karolinenviertel. Vielleicht kriegen die ja von Weihnachten einfach nichts mit. Auf der anderen Seite des Heiligengeistfelds, in meinem Viertel also, haben alle einen totalen Weihnachtsknall. In diesem Jahr hängt endgültig in jedem Fenster irgendwas, das blinken kann. Oder ein grinsender Weihnachtsmann. Oder ein winkender Weihnachtsmann. Oder ein Bild aus Kunstschnee. Überflüssiger Quatsch. Der Himmel malt zurzeit jede Nacht Bilder aus echtem Schnee. Keine Ahnung, warum sie ausgerechnet in meinem Stadtteil so heiß auf Weihnachten sind.
*
Ich setze mich auf eine mit bunten Fliesen beklebte Bank, die auch im unbarmherzigsten Matschwetter noch zuversichtlich in die Welt kuckt. Ich zünde mir eine Zigarette an und genieße den Blick auf die kleine Brücke über den S-Bahn-Schienen. Eigentlich mag ich große Brücken lieber, aber ich hab mit den Jahren gelernt, es zu nehmen, wie es kommt. Gerade in letzter Zeit. Ich habe begriffen, dass ich gegen manche Dinge einfach nicht ankann. Ich hole mein Telefon raus und wähle Klatsches Nummer.
»Hey!«, sagt er. Es hört sich an, als wäre er am Hauptbahnhof.
»Wo bist du?«, frage ich.
»Reeperbahn«, sagt er. »Muss was besorgen.«
Heißt so viel wie: Geht dich nix an.
Mir ist einfach nicht wohl bei der Sache. Klatsche ist glücklich mit seiner Bar, er und Rocco Malutki machen sich auch wirklich gut als Gastronomen, der Laden ist jeden Abend bumsvoll. Aber da lungern neuerdings immer öfter Typen rum, die nicht in Ordnung sind. Ich kann das sehen. Und ich kann sehen, dass sie was von Klatsche wollen. Sie wollen ihn wieder reinziehen in den Kiezstrudel. Ich
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