Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
Liebe besser zu überstehen. Mein Vater hatte damit angefangen, nachdem meine Mutter gegangen war. Ich war drei Jahre alt, da verbrachte ich den Heiligabend zum ersten Mal in einer Hotellobby, in Lissabon. Für mich war’s okay. Und ich spürte, dass es für meinen Vater nur so ging. Christopher Riley und ich hatten letztlich immer ein paar sehr gute Tage miteinander. Das erste Weihnachten ohne ihn hab ich damals gar nicht mitgekriegt. Ich hab am 22. Dezember angefangen zu trinken und erst am 27. damit aufgehört. Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Ich könnte schon wieder.
In der obersten Etage des grünen Hauses hängen noch Vorhänge, weiße, alte Spitzengardinen. Ein Stückchen davon hat sich über Nacht durch einen Spalt im ehemaligen Schlafzimmerfenster geschlichen, und seitdem weht es da ein bisschen im Wind, während ab und an eine Schneeflocke fällt. Daran ist mein Blick kleben geblieben, und in meinem Herzen ist es immer trister geworden. Bis ich’s nicht mehr ausgehalten hab und zum Hafen gerannt bin.
Vielleicht versuche ich morgen, in das grüne Haus reinzukommen und die Gardinen abzunehmen, bevor sie da hängen, bis sie schwarz werden.
Ich laufe vom Fischmarkt aus immer an der Elbe entlang, immer nach Westen. Aus dem Kopfsteinpflaster wird erst vernachlässigter Asphalt, dann Schotter, dann Sand. Aus den schick renovierten Klinkerbauten links und rechts werden erst eingeschossige Lagerbauten, gespickt mit ein paar Panoramawohnblöcken für Reiche, dann sehe ich nur noch Wasser und Bäume, zwischendrin hier und da ein Häuschen für einen Kapitän oder sonst irgendeinen Romantiker. Ich laufe bis zur Himmelsleiter, der schönen alten Treppe, die zur Elbchaussee führt, und schon vorher kucke ich viel nach oben. Bleibe stehen, stecke die Hände tief in die Manteltaschen und halte mein Gesicht in die Richtung, in der die Elbe ins Meer fließen muss. Sollten alle viel öfter machen: in den Himmel kucken und gleichzeitig versuchen, am Meer zu riechen. Das macht die Seele sauber. Und schon gegen Mittag fühle ich mich besser. Ich steige in Övelgönne aufs Schiff, fahre bis zu den Landungsbrücken und sehe mir an, wie die Elbe langsam ein paar Eisschollen ausbrütet. Dann kaufe ich mir ein Fischbrötchen und laufe noch eine Weile in die andere Richtung, durch diese ewig langen neuen Straßen der Hafencity. Als die Dämmerung langsam übers Wasser gekrochen kommt, ruft der Faller an und fragt, ob ich Lust hätte, ihn ein bisschen zu begleiten. Klar hab ich Lust.
*
Ich hab den Faller unauffällig ins Karolinenviertel bugsiert. Von dem Obdachlosen hab ich ihm noch gar nichts erzählt. Ich werde das Gefühl nicht los, mich eventuell lächerlich zu machen, weil der arme Mann mich so beschäftigt. Aber das ist natürlich Blödsinn, meine Freunde sind allesamt mitfühlende Menschen.
»Faller«, sage ich.
Er hat vor dem Bioladen an der Ecke kurz angehalten, um sich eine Roth-Händle anzuzünden.
»Faller, hier lag gestern ein Obdachloser rum.«
»Chastity, mein Mädchen«, sagt er, zieht an seiner Zigarette und lugt Robert-Mitchum-mäßig unter seiner Hutkrempe hervor. »Ich hab eine Information für Sie: In Großstädten liegen jede Menge Obdachlose rum.«
»Er war zu Brei geprügelt, Faller.«
Er lässt seine Zigarette im Mundwinkel hängen, schiebt seinen Hut ein Stück nach hinten und steckt die Hände in die Manteltaschen.
»Und?«
»Ich hab einen Krankenwagen und die Kollegen von der Lerchenstraße gerufen«, sage ich.
»Ich meine, wer hat den Mann denn so zugerichtet?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Die Kollegen arbeiten sicher dran.«
»Natürlich«, sagt der Faller und zieht seinen Hut wieder tiefer ins Gesicht. Er weiß genauso gut wie ich, dass ein obdachloses Opfer niemanden zu einer Hochdruckermittlung anspornt. Schon gar nicht so kurz vor Weihnachten, wenn alle ihre Familien um die Ohren haben.
Ich stecke mir eine Lucky Strike an und kucke in den Himmel. Der ist dicht, die Dächer der etwas höheren Häuser sind in Wolkenwatte gepackt. Es schneit sehr viel heftiger als heute Morgen. Fast ein richtiges Gestöber, aber nur fast.
»Wo ist eigentlich Ihre Mütze, Chastity?«
»Hat sich im letzten Herbst aufgelöst«, sage ich, »wie so manches.«
»Das geht ja gar nicht«, sagt der Faller. »Lassen Sie uns mal da drüben reingehen.«
Er überquert die Marktstraße, ohne nach links und rechts zu schauen, er läuft wie ein König, als würde das alles hier ihm gehören. Er bleibt vor
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