Eisprinzessin
spinnst doch, Marlu.«
»Stell dir doch mal vor, du wärst weg, verschwunden, meine ich, und ich würde der Polizei oder einem Psychologen von diesen kleinen Auszeiten erzählen, die du dir immer wieder nimmst. Die könnten das vielleicht sogar als Hinweise auf ein geplantes Verschwinden deuten. Meinst du nicht?«
Meinte sie das jetzt tatsächlich ernst, oder machte sie sich nur über ihn lustig? Meißner beobachtete sie. Erst zuckte nur ihr rechter Mundwinkel ein wenig, dann grinste sie übers ganze Gesicht. Fast zärtlich boxte sie ihn auf den Arm und verzog dabei etwas das Steuer, als sie in die Ettinger Straße abbog.
»Hey, pass doch auf!«, rief er. Aber er war sehr froh, dass sie wieder lachen konnte.
* * *
Wenn man sie suchte, kam sie lange Zeit nicht. Zuerst trat der Mann abends auf den kleinen Platz mit den Platanen und rief nach ihr. Immer wieder griff er sich dabei mit der rechten Hand an den Kopf und strich sich die Haare nach hinten, bis sie glatt wie eine Mütze am Kopf anlagen. Auf und ab lief er und lockte sie mit seiner samtenen Bassstimme. Vergeblich. Dann setzte er sich auf die schmiedeeiserne Bank mit den geschwungenen Füßen, streckte die Beine aus und verschränkte die Arme auf dem Bauch, sah sich auf dem Platz um, suchte die Eingänge zu den Seitengassen ab, hob zwischenzeitlich den Kopf und betrachtete die Balkone im ersten Stock der hundert Jahre alten Gründerzeithäuser. Sein Blick wanderte über die Simse und Absätze an den Fassaden.
Es dauerte nicht lange, und einer der Männer in den umliegenden Läden – der Friseur aus seinem winzigen Geschäft, der Mann aus dem Lebensmittelladen oder manchmal auch der Barmann aus dem Café an der Ecke – gesellte sich zu ihm. Während sie ein Schwätzchen über die neuesten Ereignisse im Viertel hielten, sah der Mann sich immer wieder nach der Katze um. Irgendwann stand er auf und ging zu einer der Seitengassen, spähte hinein, lockte sie mit einem ganz eigenen Laut. Er sog die Luft ein, spitzte dabei die Lippen und rief wieder ihren Namen: »Gringa!« Das zweite »G« rutschte ihm tief in die Kehle, bevor sich sein Mund weit öffnete, fast als würde er anfangen zu gähnen, um dann das Schluss-A zu formen, das von den Seitenwänden der Gasse widerhallte.
Der Mann ging zurück ins Haus, der Friseur in seinen Laden, der Barmann an seine Theke oder der Mann vom Lebensmittelladen in sein Geschäft. Ihnen bedeutete die Katze nichts. Katzen gab es einige im Viertel. Dass der Mann sie jeden Abend rief, nach ihr suchte, um sie zu füttern und mit ins Haus zu nehmen, interessierte sie nicht, viel eher doch die Gelegenheit zu einem Schwätzchen. Die Katze war Nebensache. Das Rufen war ein Tick des Mannes wie ein Augenzucken oder ein Wort, das Menschen immer wieder, in jedem zweiten Satz, verwenden. Wie »Verstehst du?« oder »Weißt du, was ich meine?«. Die Katze würde schon kommen, wenn sie Hunger hatte. Seine Bemühung oder sein Wunsch, das Tier möge vor Anbruch der Dunkelheit wieder im Haus sein, fanden die Geschäftsleute ein bisschen wunderlich. Das war doch keine Angewohnheit für einen Mann. Wäre die Katze ein Hund gewesen, dann vielleicht, aber eine Katze? Eine Katze war doch kein Haustier für einen Mann. Sie wunderten sich über seine tägliche Geduld und Ausdauer. Sie wussten, wohin er ging und wo er für gewöhnlich stehen blieb. Und sie kannten die Katze. Die Katze, die nie kam, wenn der Mann nach ihr rief.
Nachdem der Mann im Haus verschwunden war, dauerte es noch einmal eine Stunde, bis er und seine Frau zu Abend gegessen hatten. Dann trat die Frau auf den grau gestrichenen Eisenbalkon. Sie schaute auf den Platz hinunter, dann zum Balkon des Hauses nebenan, zu dem ein vorspringender Sims hinüberführte, und schließlich nach links, wo der Balkon sich über die Häuserecke fortsetzte. Zu dieser Zeit war die Straßenbeleuchtung bereits angeschaltet, und die Bäume warfen lange Schatten auf das Pflaster. Erst wenn die Frau ebenfalls auf den Platz ging, die Eingänge zu den Gässchen um ihn herum mit zusammengekniffenen Augen untersuchte und immer wieder »Gringa, Gringa!« rief, mit ihrer heiseren Stimme, die das I immer länger zog, je ungeduldiger sie wurde, erst dann tauchte die Katze plötzlich auf und rieb ihren Kopf an den Beinen der Frau. Sie beugte sich zu dem graubraun getigerten Tier hinunter, streichelte ihm den Kopf, kraulte es hinter den Ohren und unter dem Kinn und nahm es mit ins Haus. Woher die Katze gekommen war,
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