Eisprinzessin
wert war. Das Motorengeräusch klang nach Formel-1-Rennen in Monza oder Monte Carlo. Am Steuer saß der Junior, die Person auf dem Beifahrersitz musste Vilma sein, die sich in eine perfekt zum Wagen passende Blondine mit offenem Haar und riesiger Sonnenbrille verwandelt hatte. Viel sehen konnte sie damit an diesem grauen Wintertag nicht. Helmer senior beobachtete die beiden, in seinem Blick lag Geringschätzung.
»Ist das nicht Ihr Hausmädchen?«, fragte Meißner.
»Anscheinend findet er keine andere«, sagte Helmer. »Andererseits gibt es auch schlechtere als sie.«
Gemeinsam sahen sie zu, wie das Auto davonfuhr, und lauschten dem satten Motorbrummen. Dann trat die Maklerin mit einer neuen Gruppe von Interessenten in die Garagenauffahrt. Helmer wandte sich ab.
Als die beiden Polizisten das Zimmer verließen, sahen sie, wie Helmer sich auf den Rand des Himmelbetts seiner Tochter setzte und mit der Hand über die seidene Bettdecke strich.
»Und was wissen wir jetzt?«, fragte Meißner im Auto.
»Eine ganze Menge«, antwortete Marlu. »Dass der Senior ein melancholischer alter Herr ist und der Junior ein Schnösel mit viel Geld, das er sich bestimmt nicht selbst erarbeitet hat, und einem Faible für aufgemotzte Autos und blonde Frauen mit großen Brillen. Dass er es mit Hilfe einer osteuropäischen Haushälterin endlich geschafft hat, einen eigenen Hausstand zu gründen. Und dass die Helmers die Villa für eine knappe Million verkaufen wollen.«
»Was uns aber nichts angeht«, sagte Meißner.
»Du meinst, wir können den Besuch unter ›sinnlose Aktionen‹ verbuchen?«
»Das meine ich.«
»Na ja, du vielleicht. Mir jedenfalls ist heute etwas ganz Besonderes passiert.« Marlu sah ihn ganz feierlich an. »Ich bin heute zum ersten Mal in meinem Leben mit ›Frau Meißner‹ angesprochen worden. Das ist schon was Außergewöhnliches.«
»Was?«, fragte Meißner. »Du willst mich heiraten?«
»Falsch«, sagte Marlu. »Die Frage geht anders. Sie fängt nicht mit ›Was‹ an und geht auch nicht mit ›Du willst mich‹ weiter. Sie lautet: ›Willst du mich …?‹.«
»Jetzt schau mal einer an. Was so eine Satzstellung doch alles ändern kann.« Meißner sah zum Seitenfenster hinaus. Aber so würde das bei ihm nie funktionieren. Ihn müsste schon eine Frau fragen, aber nur in der genau passenden Stimmung. In dem einen unter Millionen von Augenblicken, die sein Leben für ihn bereithielt. Noch war ihm dieser Augenblick nicht untergekommen, deshalb schob er es auf den Augenblick, nicht auf die Frauen und schon gar nicht auf sich selbst. Zu einer so großen Entscheidung hatte er sich bisher noch nie reif gefühlt.
»Stört es dich, wenn ich das Radio anmache?«, fragte Marlu. »Ich würde das große Schweigen gern mit ein bisschen Musik ausfüllen. Ist das okay für dich?«
* * *
Dieses Lied, dass das überhaupt noch gespielt wird! Hätte sie nach all den Jahren noch ein paar Tränen übrig gehabt, dann wären sie jetzt gelaufen. Aber das Heulen hatte sowieso noch nie geholfen, damals nicht, und heute würde es das auch nicht tun.
Wie die bezaubernde Jeannie klimpert sie ein paarmal mit den Wimpern. Sie ist zwölf, öffnet den Reißverschluss ihrer Sporttasche, nimmt ein Paar weiße Lederschlittschuhe heraus, fährt mit den Fingern über die Lauffläche. Der neue Hohlschliff ist scharf und eben, genau so, wie sie ihn haben wollte. Mit der neuen Innensohle kann sie jede Bewegung noch besser spüren und steuern, hat ihr die Trainerin gesagt.
Sie zerrt an den Schnürsenkeln, bis es schmerzt. Aber es muss wehtun, damit der Schuh und der Fuß eins werden, alles muss wie aus einem Guss sein. Der Schuh ein Teil ihres Körpers, und Schmerzen, was sind schon Schmerzen gegen das Glück eines gelungenen Sprungs? Bei ihren ersten Schritten auf dem Eis trug sie noch einen wattierten Schneeanzug. Damals taten die Stürze noch nicht weh. Das kam erst später.
»Und hopp!«, hört sie die Stimme der Trainerin aus der Halle, dazu die kitschige Musik, die Tanja sich für ihre Kür ausgesucht hat. Charlotte macht ein paar Dehnübungen, dann beobachtet sie Tanjas Versuche durchs Fenster, sieht zu, bis deren Stunde vorbei ist und zwei Zambonis auf das Eis fahren, um es glatt zu polieren. Charlotte liebt es, wenn sie als Erste nach den Eismaschinen auf das Eis darf. Keine Rille, kein Buckel, keine Furche. Sie liebt es, wenn sie im großen Kreis beginnen kann, dann immer schneller wird, den Radius verengt und spürt, wie die
Weitere Kostenlose Bücher