Eisprinzessin
scheu machen.«
»Sie glauben, sie hat sich nur eine kleine Auszeit genommen und vergessen, jemandem Bescheid zu sagen?«
»Keine Ahnung, aber das könnte ich mir noch am ehesten vorstellen.«
»Ihr Schwager nimmt das nicht so auf die leichte Schulter«, sagte Marlu.
»Na ja. Moritz ist vielleicht auch ein bisschen überängstlich. Gibt es denn irgendeinen Anhaltspunkt dafür, dass wir uns Sorgen machen müssten?«
Meißner schüttelte den Kopf. »Nein, die gibt es derzeit nicht. Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Schwester?«
Helmer nickte. »Ich bin der große Bruder.«
»Gibt es irgendeinen Ort, an dem sie sich gerade aufhalten könnte? Ein Wochenendhaus, eine Ferienwohnung, die der Familie gehört? Ein Hotel, das sie besonders gern mag?«
»Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Aber nein, mir ist da nichts eingefallen.«
»Hat Ihre Schwester eigentlich noch ein Zimmer hier im Haus?«, fragte Marlu.
Groß genug ist es ja, dachte Meißner.
»Ich kann es Ihnen zeigen«, bot das Hausmädchen an.
Sie führte sie in den ersten Stock und ließ sie dann in Charlotte Helmers ehemaligem Jugendzimmer allein. Meißner trat ans Fenster und sah hinunter in den Garten. Hier musste ihr Bruder gestanden haben, als er ihn von unten gesehen hatte.
Es war ein Mädchenzimmer wie aus einem britischen Cottage. Viel Weiß und Rosa. Trotz Holzdecke und Dachschräge wirkte der Raum hell und zart. In der Mitte stand ein großes Himmelbett, dessen Baldachin mit einem transparenten Seidenstoff mit kleinen Blümchen bespannt war. An der Wand hingen gerahmte Fotos, die ein kleines Mädchen mit dünnen Beinchen als Prinzessin auf dem Eis zeigten. Auf den ältesten Fotos war das Mädchen höchstens sieben oder acht Jahre alt. Es trug ein kurzes rosa Kleidchen und eine fleischfarbene Strumpfhose, die bis über die Schlittschuhe gezogen war. »Schanzer Pirouette, 1994« stand unter dem Foto. Auf dem nächsten war das Mädchen schon etwas älter und trug ein helles Kleid mit breitem königsblauem Saum. »Bavarian Open, Oberstdorf, 1995«. Bayerische Jugendmeisterschaft, Qualifikation deutsche Nachwuchsmeisterschaften. Das Kleid schwarz mit stahlblauen Einsätzen. Die Eisprinzessin war ein bisschen gewachsen, hatte aber immer noch ihre dünnen Storchenbeine. Sie trug die Haare nun offen. Alpenpokal Winterthur, sechster Platz. Siegerehrung. Charlotte auf dem Treppchen. Zu jedem Wettbewerb ein neues Kleid. Eine Sammlung von Pokalen in einer Glasvitrine. Mädchenbücher im Regal. Eine Sammlung Plüscheisbären.
»Darf man erfahren, wer Sie sind und was Sie hier tun?«
Sie hatten den alten Helmer nicht kommen hören. Der Unternehmer sah müde aus, das Hemd zerknittert, das kräftige graue Haar noch von seinem Mittagsschlaf zerdrückt. Als Meißner ihm seinen Dienstausweis reichte, klopfte Helmer seine Taschen nach einer Lesebrille ab, fand aber keine. Er nahm den Ausweis mit ans Fenster.
»Polizei?«
»Kripo Ingolstadt, Hauptkommissar Stefan Meißner. Meine Kollegin Marlu Rosner.«
»Sind Sie verwandt mit dem Hosen-Rosner?« Der Unternehmer musterte Marlu wie ein Großinquisitor.
Marlu nickte brav. »Mein Großonkel«, sagte sie. »Sind das alles Bilder Ihrer Tochter Charlotte?«
Helmer machte eine unwirsche Armbewegung. »Ja, alles unsere kleine Eisprinzessin«, sagte er.
»Sie war ja recht erfolgreich. Hat sie das später auch noch gemacht, ich meine, als sie älter war?«, wollte Marlu wissen.
»Das war irgendwann vorbei. In der Pubertät hat sie sich für andere Dinge interessiert, wie’s halt so ist bei den jungen Leuten.«
»Aber die Bilder hat sie trotzdem nie abgenommen?«, fragte Meißner.
»Vielleicht hängen sie nur wegen der Erinnerung noch da.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo Ihre Tochter jetzt sein könnte?«
»Nein, leider.« Helmer fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen. Vielleicht schlief er schon länger nicht mehr gut. Er strahlte etwas Grundtrauriges aus.
»Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrer Tochter?«, fragte Meißner.
»Meine Tochter trägt ihr Herz nicht gerade auf der Zunge. Bei ihr weiß man oft nicht, woran man ist. Wenn sie Probleme hat, kommt sie damit nicht zu mir. Ich bin ein alter Mann, verstehen Sie?«
Es klang bitter. Draußen heulte ein Automotor auf. Helmer ging ans Fenster, und Meißner folgte ihm. Von dem Platz vor der Garage rollte der weiße Audi Q 7 mit zwölf Zylindern. Ein SUV mit etwa fünfhundert PS , der mindestens hunderttausend Euro
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