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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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ihnen, als hielte es Winterschlaf. In kleinen Wellen plätscherte eine müde Brandung ans Ufer.
    Sie liefen ein Stück weiter. Das Thermometer an einer Apotheke zeigte zehn Grad. Jetzt begann Charlotte zu erzählen. Von ihrer Mutter, davon, was sie noch von ihr erinnerte. Die Mutter hinter der Bande im Eisstadion, die alte Thermoskanne. Ein stolzer Blick, wenn ein Sprung gelungen war, tröstende Worte, wenn sie sich wehgetan hatte.
    Meißner fragte sie nicht, warum sie aus Ingolstadt weggegangen war, obwohl er gern die Antwort gewusst hätte. Aber das hatte noch Zeit.
    Um zehn begleitete er Charlotte zur »Bar Europa«, und sie verabredeten sich für den nächsten Vormittag zum Frühstück.
    Auf dem Weg ins Hotel kam er an einem Kino vorbei. Ein Thriller mit Robert De Niro, er hatte gerade angefangen, und Meißner hoffte, dass versión original bedeutete, dass der Film in der englischen Originalfassung gezeigt wurde. Wie lange war er schon nicht mehr im Kino gewesen? Er holte sich eine Karte und schlich sich in den Kinosaal. Zuerst las er noch die spanischen Untertitel mit und freute sich, wenn er ein Wort verstehen konnte. Vom Amerikanischen verstand er auch nicht mehr als die Hälfte. Im Kino war es angenehm warm und sein roter Plüschsessel sehr bequem. Er wurde erst wieder wach, als jemand an seiner Schulter rüttelte. Der Film war aus. Meißner floh ins nächtliche Palma und fand auf Anhieb den Weg zurück zu seinem Hotel.

SIEBZEHN
    Charlotte Helmer rief ihn sehr früh am nächsten Morgen an, aber Meißner war bereits wach. Er hatte auch schon einen Blick hinaus auf die Straße geworfen, wo schräg gegenüber wieder eine der vielen Losverkäuferinnen Position bezogen hatte. Im Wintermantel saß sie auf einem Klappstuhl, an der Hauswand lehnte die Staffelei mit den langen Losreihen, die wie Fahnen flatterten.
    Charlotte klang aufgeregt. Sie sagte, sie habe kaum geschlafen, sei nachts aufgestanden und habe in der Zeitung geblättert, und da sei sie plötzlich da gewesen, die Erinnerung an den Tag, als ihre Mutter verschwand. Wie ein Blitzlicht oder eine Vision.
    »Ich habe noch in der Nacht alles aufgeschrieben«, sagte sie, »damit ich es nicht wie einen Traum vergesse.«
    Sie trafen sich eine halbe Stunde später vor seinem Hotel. Charlotte sah trotz Schlafmangel frisch und lebendig aus. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung. Während sie in einem Café Milchkaffee bestellte und wie eine Halbverhungerte einen Berg Schmalzkringel verdrückte, las er, was sie aufgeschrieben hatte.
    Ich erinnere mich. Da ist ein Flüstern am Fuß der Treppe. Ein schmaler Streifen von gelbem Licht fällt auf den Boden im Flur. Eine Uhr schlägt. Erst vier Mal, dann noch einmal drei, vier, fünf Mal. Ich habe den Kopf in die Hände gelegt und lausche. Ich sollte nicht hier sein. Das Flüstern kommt und geht wie kleine Windhosen, die sich sammeln, aufsteigen, wirbeln und dann verschwinden, wie sie gekommen sind. Sie zerlaufen wie ein Tropfen Farbe im Wasserglas.
    Die Stimme schmeichelt, sie drängt, bettelt. Ich sollte nicht hier sein, kein anderer soll sie hören, diese zwei Stimmen, die sich irgendwo da draußen treffen, Ohr und Mund, sein Ohr, ihr Mund, ihr Flüstern in sein Ohr. Ihre Stimme drängt, zögert, schmeichelt, verspricht, schwingt mit seinem Trommelfell.
    Ich kenne die Stimme, aber nicht dieses Flüstern. Es legt sich auf mein Herz und drückt es zusammen wie einen Schwamm. Mir ist bang, so heißt das Wort, das ich aus dem Märchen kenne, das mir so gefällt.
    O du Falada, da du hangest, fleht die Königstochter, die ihre Mutter verloren hat und als Gänsemagd leben muss. Mit einem toten Pferdekopf spricht sie und mit dem Wind. Weh, weh, Windchen, nimm Kürtchen sein Hütchen. Kürtchen entdeckt, dass sie ihr goldenes Haar bürstet, während er hinter seinem Hut herläuft. An den Haaren erkennt er sie und berichtet dem König von der unglücklichen Magd, die gar keine ist.
    Mir aber gehorcht der Wind nicht, und ich habe kein Pferd zum Freund, mit dem ich sprechen könnte. Ich bin so klein.
    Die Stimme meint nicht mich. Sie meint einen anderen, wenn sie schmeichelt und lockt, nicht mich. Sie hat mich ganz vergessen.
    Ein Klack und das Flüstern endet. Ich sehe einen Schatten, der nicht der ihre ist. Da ist noch jemand, der lauscht, so wie ich. Ich weiß nicht, wie lange schon. Als wir uns entdecken, ich seinen Schatten am Rand des Lichts, er meinen Kopf in den Händen, auf der Treppe, erschrecken wir uns. Er legt seinen

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