Eisprinzessin
Schlaf und danach ein Frühstück in der Bar nebenan. Cappuccino hatten sie nicht, aber mit dem café con leche , den der Barmann ihm stattdessen servierte, war Meißner auch zufrieden. Es war hier ebenso laut wie in dem Etablissement, aus dem Elmar ihn angerufen hatte. Der Lärm gehörte offenbar obligatorisch mit dazu. Dann machte er sich auf den Weg.
Fischer hatte herausgefunden, dass Charlotte oder die Frau, die sie dafür hielten, in einer Studenten- WG wohnte, weshalb sie auch nirgendwo gemeldet war. Am Klingelschild des Hauses stand 1° izda, 1°dcha, 2°izda, 2°dcha und so weiter, kein einziger Name. Meißner lungerte auf der Straße herum, beobachtete den Hauseingang, dann einen Losverkäufer, hörte ihn seinen immer gleichen spanischen Singsangsatz rufen, aber es hätte genauso gut Chinesisch sein können. Er verstand kein Wort.
Nichts geschah. Die Studenten waren an der Uni oder schliefen noch. Meißner vertrieb sich die Zeit mit einem Spaziergang durch Palma. Er beobachtete Frauen, die mit großen Taschen vom Markt kamen, Bettler, die in den Lücken zwischen den Läden und Hauseingängen saßen, eine Büchse oder ein Stück Pappe vor sich für die Münzen, die ihnen ab und zu ein Passant zuwarf. An einem kleinen Platz kniete eine mit Ofenbronze eingesprühte Wäscherin über einer Zinkwanne und hielt ein Waschbrett in der Hand, das ebenso Ton in Ton eingefärbt war. Wenn eine Münze der wenigen Touristen in ihrem Zinkeimer schepperte, richtete sie sich kurz auf und schenkte dem Spender ein hinreißendes Lächeln.
Am Nachmittag bezog Meißner wieder seinen Beobachtungsposten gegenüber dem Haus, in dem die Wohngemeinschaft lebte. Aber wieder hatte er kein Glück. Später machte er sich auf den Weg zu dem Lokal, in dem, so hatte er von Fischer noch erfahren, Charlotte Helmer abends manchmal als Bedienung arbeitete.
Auf dem Weg trank er ein Bier in einem Straßencafé und lief kurz einer Handtaschendiebin hinterher, die ihn aber abhängte. Schließlich stand er vor der »Bar Europa«. Im Halbdunkel des Lokalinneren, zwischen dem Tresen und einer Spiegelwand mit unzähligen Spirituosen und Biersorten aus aller Welt, sah er sie. Sie war blond und schmal, hatte eine blasse, fast durchscheinende Haut und trug eine lange schwarze Schürze über der Jeans. Wenn er Glück hatte, war diese Frau Charlotte Helmer. Sie sah ihrer Mutter schon ähnlich, fand Meißner, konnte sich aber nicht auf seinen Eindruck verlassen, weil er ja so seine Schwierigkeiten mit dem Wiedererkennen von Gesichtern hatte.
Er fragte sie, ob sie Deutsch spreche.
»No, sorry«, antwortete sie.
In diesem Moment hätte Meißner sich gewünscht, eine Ausgabe des Donaukuriers oder ein anderes Ingolstädter Souvenir aus der Tasche ziehen und wortlos auf den Tisch legen zu können. Das wäre eine Dramaturgie gewesen. Aber das Einzige, was er tatsächlich in der Tasche hatte, war ein Schokoherz von Air Berlin. Er musste es also anders angehen. Er bestellte einen Espresso und ein Mineralwasser, und als sie beides vor ihm auf den Tresen stellte, sagte er einfach wie ein Nullachtfünfzehn-Kriminaler: »Frau Helmer, ich habe eine traurige Nachricht für Sie.«
»Kripo Ingolstadt«, las sie laut von seinem Ausweis ab.
»Wie lange arbeiten Sie heute? Können Sie vielleicht Ihre Schicht mit jemandem tauschen?«
Sie führte zwei Telefonate, eines auf Englisch, eines auf Spanisch. Eine halbe Stunde und zwei Espressi später traf Maria, eine junge Frau mit zwei Ringpiercings an der rechten Augenbraue, in der Bar ein und löste Charlotte ab.
»Ich übernehme dann die Spätschicht ab zehn«, sagte sie zu Meißner, »dann muss Maria zu ihrem zweiten Job in die Diskothek.«
Sie legte die Schürze ab, schlüpfte in ihren braunen Parka, und sie gingen durch die Gassen der Altstadt von Palma hinunter zum Meer. Sie liefen durch den Parc de la Mar, zwischen Palmen und künstlich angelegten Teichen hindurch, in denen sich die Kathedrale spiegelte, die selbst Meißner von Postkarten kannte, obwohl er zuvor noch nie hier gewesen war. Er erzählte, und Charlotte hörte zu. Sie setzten sich auf eine Bank und später in ein Café mit windgeschützter Terrasse und Fleecedecken auf den Stühlen.
Charlotte war von den Ereignissen komplett überrumpelt. Still hörte sie zu. Hätte er sich ihr gegenüber nicht ausgewiesen, sie hätte ihm wahrscheinlich kein Wort geglaubt. Manchmal weinte sie leise und ohne Dramatik vor sich hin. Das Meer lag dunkel und glatt vor
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