Eisprinzessin
Finger auf die Lippen und heißt mich schweigen. Er weicht in die Dunkelheit zurück, und ich laufe in Strümpfen die Treppe hinauf, ans Fenster. Die Bäume sind grau, der Garten ist grau und der Himmel auch. Ein Kobold ist gekommen. Er hat alle Farben versteckt und wird sie lange nicht wiederbringen.
Ich weiß nicht, was richtig ist. Ich weine nicht einmal, als die Tür ins Schloss fällt und ich eilige Schritte höre. Das Surren des Garagentors. Ein Motor heult auf, wird leiser, und ich presse mein Gesicht gegen das kalte Fenster.
Ich schweige und lege Schicht um Schicht des Vergessens über das Erlebte, bis es ganz zugedeckt ist und ich diese wenigen Augenblicke zwischen Tag und Nacht, das Flüstern der Stimme und das Schlagen der Uhr, den Schatten, der mich Schweigen hieß, bis ich all das tatsächlich und wirklich vergessen habe.
Als Meißner fertig gelesen hatte, biss er in den letzten und einzigen Kringel, den Charlotte übrig gelassen hatte.
»Sie müssen sie warm essen«, sagte Charlotte, winkte dem Kellner und bestellte eine weitere Portion.
»Sie wissen, wer die zweite Person war, die wie Sie Ihre Mutter bei dem Telefonat belauscht hat, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Charlotte.
»Ihr Vater?«
»Mein Bruder«, sagte Charlotte. »Er hat mich in mein Zimmer geschickt, aber ich bin oben am Gang stehen geblieben und hab aus dem Fenster geschaut. Ich sah, wie meine Mutter in ihren Wagen stieg und losfuhr. Dann hörte ich, wie Andi in der Garage seinen Motorroller startete. Er sprang beim ersten Mal nicht an, also versuchte er es noch einmal und ein drittes Mal. Mein Bruder hatte noch keinen Autoführerschein, er war ja noch nicht achtzehn.«
Meißner fragte sich, ob Charlotte klar war, was sie da gerade gesagt hatte. Sie verdächtigte ihren Bruder, etwas mit dem Tod ihrer Mutter zu tun zu haben. »Sie müssen Ihren Bruder nicht mit Ihrer Aussage belasten«, sagte er.
Sie wischte sich die Hände an der Serviette ab. »Ich will endlich die Wahrheit erfahren, Herr Meißner«, sagte sie. »Ich habe so lange mit schrecklichen Geheimnissen und Lügen gelebt. Erst hat man mir gesagt, ich soll schweigen. Dann hat man mir gesagt, ich soll lügen. Ich soll erzählen, dass meine Mutter gestorben ist. Ich wusste, dass mein Vater weiterhin die Versicherungsbeiträge für meine Mutter einzahlte und sie ihre Anteile an der Firma behalten hatte. Das Schlimmste war, dass ich damit leben musste, dass meine Mutter mich verlassen hatte. Dass sie weggegangen war, ohne sich von mir zu verabschieden und ohne mir eine Nachricht zu schicken. Weder zu Weihnachten noch zum Geburtstag. Sie war einfach weg. Können Sie sich vorstellen, wie das ist?«
Meißner versuchte es zumindest.
»Ich war der einsamste Mensch auf Erden«, sagte sie. »Und ich habe gespürt, dass um mich herum nur gelogen und vertuscht wurde. Aber ich war so jung, was konnte ich tun? Nur ausharren und irgendwie weiterleben bis zu dem Tag, an dem das Lügen endlich aufhören würde. Jetzt ist dieser Tag gekommen, und ich werde den Teufel tun und zulassen, dass wieder alles zugedeckt wird.«
Sie bestellte sich einen Orangensaft. »Ich will, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Schon wegen meiner Mutter. Sie hätte mich nicht verlassen. Sie wäre nicht einfach so weggegangen.«
»Dann darf ich Ihre Aussage zu Protokoll nehmen und verwenden?«, fragte Meißner.
»Das dürfen Sie«, sagte Charlotte. »Und behalten Sie ruhig diese Seiten. Ich brauche sie nicht mehr.«
Für Charlotte wurde es Zeit, zur Arbeit zu gehen. Er hätte gern noch gewusst, sagte Meißner, warum sie gerade jetzt aus Ingolstadt weggegangen sei.
»Ich habe mein Leben nicht mehr ausgehalten«, sagte sie. »Es war doch alles nur Fassade. Nichts davon war echt. Ich habe den falschen Mann geheiratet, in der falschen Wohnung gelebt und den falschen Beruf ergriffen. Ich war nur noch glücklich, wenn ich in Bewegung war. Beim Fahrradfahren, beim Sport, auf Reisen. Ich wollte schon lange weg, schon als ich mit meinem Erbe die Mühle im Norden der Insel gekauft habe. Es war mir klar, dass ich einmal hierhergehen würde, wenn ich genug Kraft gesammelt hätte. Ich muss aus dem falschen Leben jetzt endlich ein richtiges machen, verstehen Sie?«
»Und warum sollten Ihr Mann und Ihre Familie nichts davon erfahren?«
»Das hätte ich nicht auch noch geschafft, diesen Entschluss anderen erklären, ihn verteidigen zu müssen. Mich mit Moritz auseinanderzusetzen, ihn zu verlassen. ›Wenn es dem Esel zu wohl
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