EisTau
Passagiere.
– Das größte SOS der Geschichte.
– Ich gehe davon aus, daß er über die Restriktionen informiert ist?
– Da drücken wir ein Auge zu.
– Tun wir das?
– Wenn jemand nachfragt, war das Ganze eine Sicherheitsübung.
– Die Passagiere müssen einverstanden sein.
– Das ist Ihre Aufgabe.
– Ich werde ihnen die Aktion von Mr. Quentin morgen vorstellen.
– Über den Rest sprechen wir gesondert.
Als Helene ausgezogen war, nachdem unser Umzug in das Sollner Haus sich als paartherapeutischer Mißerfolg erwiesen hat, verschlierten die Bilder an den Wänden zu fremden Reminiszenzen. Wenn ich sie betrachtete, war mir, als blickte ich aus dem Fenster hinaus auf ein beliebiges Leben, das im gegenüberliegenden Gebäude verwahrt wurde. Ich habe sie nacheinander abgehängt, während ich die Rotweine in mich kippte, die Helenes Vater hinterlassen hatte. Der brave Mann hatte Genüßlichkeiten gehortet, auf daß sie eines fernen Tages seinem Schwiegersohn helfen, über die Trennungvon seiner Tochter hinwegzukommen. Es blieben Ränder an der Wand zurück, irritierende Ränder. Wieso hinterläßt alles, was wir tun, einen Abdruck (es braucht hundert Jahre, bis ein Fußabdruck in der Antarktis verschwindet), wieso können wir nicht wie Vögel in der Luft spurlos durch den Augenblick gleiten? Ich wollte nicht neu weißeln, es war ungewiß, wie lange ich noch in diesen vielen Wänden ausharren würde. In der Innenstadt kaufte ich einen Zeichenblock und Wasserfarben. Ich begann, die Buchstaben einzeln auf DIN-A3-Blätter zu malen, nach ausgiebiger Überlegung, welche Farbe ich jeweils verwenden sollte. Beim A entschied ich mich für ein Gelb, eingedunkelt wie ein hochbetagter Riesling. Z erhielt zum Ausgleich ein Spätburgunderrot, O war in einem so weichen Grau gehalten, daß man es nur erkannte, wenn man dicht vor dem Blatt stand. Täglich malte ich einen Buchstaben. Und befestigte diesen, kaum war die Farbe getrocknet, mit Reißzwecken an der Wand. Als das vollständige Alphabet meine Wände zierte, fühlte ich mich wohler in diesem Haus, das ich niemals »mein Haus« nennen würde. Die Buchstaben ließen mich an einen Neuanfang glauben, die Buchstaben, auf sich allein gestellt, verlockten mich zum Lesen. In Ladakh hatte man mir von einem Mann erzählt, der sich auf ein einziges Buch beschränkt. Wer ihm zuhören will, findet sich zweimal die Woche im Haus eines Sandelholzhändlers ein, nahe des Indus, einem hölzernen Haus auf steinigem Sockel, zur Lesung einer einzelnen Strophe aus diesem einen Buch, gefolgt von einer Wanderung durch die Schattierungen ihrer Bedeutung. Es reizte mich, dieses Verfahren zu übernehmen. Ich zog aus dem Bücherregal ein beliebiges Werk aus jener absichtlich altertümlich gestaltetenReihe, die antiken Denkern gewidmet ist. Ich begann dieses Buch zu lesen, Zeile um Zeile, Absatz um Absatz, ähnlich konzentriert wie der Lehrer in Ladakh, nahm drei Schlucke und legte es zur Seite, vertrat mir die Beine, schrieb nach meiner Rückkehr auf, was mir von der Lektüre in Erinnerung geblieben war. Allmählich verdampfte jede Flüchtigkeit, der Vorrat an Rotweinen ging zur Neige, so nippte ich weiter, bis ich das Buch fast auswendig kannte. Zwanzig Jahre dauere es, beteuerten meine Gewährsleute in Ladakh, bis der Wortfastende mit seinen Schülern das eine Buch durchschritten hat, worauf er sich aufs neue an den Anfang begebe, begleitet von neuen Schülern. Trotz meiner Hochachtung vor diesem Vorgehen, etwas störte mich daran, etwas wollte mir nicht einleuchten. Wie kann einem ein Buch heilig sein, das man nicht für sich selbst umschreibt? Ist es denkbar, daß zwei Menschen dasselbe meinen, wenn sie »Gott« sagen oder von der Liebe sprechen? Zuerst habe ich einzelne Wörter oder Sätze unterstrichen, zweimal, dreimal, habe sie eingekreist, eingekastelt, die engen Zeilenabstände für Ergänzungen genutzt, bis mir einfiel, daß es keinen Grund gab, auf Marginalien zu verzichten. Ich legte das Buch erst wieder zur Seite, als es vollgekritzelt war. Dann kaufte ich mir dieses in Leder gebundene Notizbuch. Das Angebot des Verkäufers, meinen Namen eingravieren zu lassen, lehnte ich ab.
Und am Ende eines langen Tages auf offener See, wenn die Dunkelheit alles einschwärzt, die Sterne ermatten, der Wind sich aushaucht, treibt unser Schiff in die letzte Fülle. Es gibt auf Erden nur noch eine Terra Nullius,und wir laufen sie an, und »alle Nacht durch
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