Eistod
wie Tetrodotoxin beschäftige, dann geht’s ums Leben, nicht ums Sterben.«
»Worauf willst du hinaus?« Der Kommissar war sich nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte.
Winter nahm einen Schluck Tee, bevor er weitersprach. »Richtig strukturiert ist Tetrodotoxin ein Heilmittel. Und mit etwas Glück vielleicht das Wundermittel unseres Jahrhunderts … vergleichbar mit der Erfindung von Penicillin.«
»Ach ja?« Eschenbach war ehrlich überrascht. »Deshalb weißt du das alles. Also, ich hab mich schon gewundert.«
»Es interessiert mich, es ist ein Teil meiner Arbeit.«
»Und gegen was soll das Gift gut sein … ich meine, nach all dem, was du mir gerade erzählt hast?«
»Als Schmerzmittel zum Beispiel. Es bewirkt eine Blockade der Natriumkanäle in den Nervenzellen, so werden Schmerzsignale nicht weitergeleitet … In seiner medizinischen Form ist Tetrodotoxin etwa zweihundertmal wirksamer als Morphium, zudem macht es nicht süchtig.«
»Und das erforscht ihr an der ETH?«
»Unter anderem, ja.« Winter nickte. »Wir stehen kurz davor zu beweisen, dass es für Nervenkrankheiten wie Alzheimer und Parkinson und für sogenannte Major Depressions effiziente Therapien mit Tetrodotoxin geben könnte.«
»Depressionen, das ist dein Thema, nicht wahr?«
»Ja.« Winter sah Eschenbach lange in die Augen. »Seit dieser Sache damals mit Judith. Man könnte sogar sagen, du bist der Grund, weshalb ich Forscher geworden bin.«
Der Kommissar wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
»Denkst du manchmal auch noch an sie?«, fragte Winter nach einer Weile.
»Ja. In letzter Zeit sogar häufig.« Einen Moment fühlte er sich Winter nahe.
Der Kellner kam mit der Rechnung. Eschenbach hob kurz die Augenbrauen, als er den Betrag sah. Dann legte er ein Bündel Geldscheine auf das kleine, silberne Tablett und stand auf. Die Rechnung steckte er ein. Ihre Mäntel wurden gebracht und sie verließen schweigend das Lokal.
»Ich geh noch ein paar Schritte«, sagte Winter.
»Ich meld mich bei dir, Theo.« Sie gaben sich zum Abschied die Hand.
Eine Weile sah Eschenbach dem kleinen Mann nach, wie er die Rämistrasse hoch durch den Schnee stapfte. Der lange, dunkle Mantel fiel ihm bis auf die Fersen, unförmig und breit verbarg er den Körper, der den großen, fast kahl geschorenen Kopf mit der Erde verband.
24
Konrad Schwinn saß auf einem der altmodischen Sessel in der kleinen Lobby des Hotel Florhof und wartete.
Als er am Morgen mit dem Professor telefoniert hatte, war alles anders gewesen als sonst. »Mensch Koni«, hatte dieser gesagt. »Endlich rufst du an. Ich hab mir wirklich Sorgen gemacht.« Der Professor hatte tatsächlich erleichtert geklungen. Seine sonst so fordernde Art, der harte Tonfall, alles war wie weggeblasen. »Wir müssen miteinander reden«, hatte er hinzugefügt.
Die Ledermappe mit den Unterlagen lag auf dem leeren Stuhl neben Schwinn. Darin der Proetecin -Bericht und die Liste mit den Namen, die er bei Meiendörfer gefunden hatte. Immer wieder warf der Assistenzprofessor einen Blick auf die kleine, französische Pendule auf dem Kaminsims. Es nervte ihn, dass ihre Zeiger stillstanden und sich um den Lauf der Zeit foutierten.
Als Winter endlich die kleine Hotelhalle betrat, hob Schwinn die Hand.
Der Professor kam auf ihn zu, hastig, mit kleinen Schritten, und nach einer kurzen Begrüßung sagte er gleich: »Ich hab nicht viel Zeit, Koni.« Ohne den Mantel abzulegen, setzte er sich.
»Solltest du aber, Theo«, sagte Schwinn. »Wenigstens eine halbe Stunde.« Er zog die Liste mit den Namen aus der Mappe und breitete sie auf dem niedrigen Couchtisch aus. In kurzen Sätzen erklärte Schwinn, wie er mithilfe des Periodensystems der Elemente auf die Namen, Postleitzahlen und Orte gekommen war.
»Und jetzt?«, wollte Winter wissen. »Was bedeutet das alles?«
»Es scheinen real existierende Personen zu sein, Randständige, Bettler, Drögeler … was weiß ich. Allzu viel hab ich noch nicht über sie erfahren. Jedenfalls hab ich die Liste Denise Gloor gezeigt. Erst konnte sie nicht viel damit anfangen, aber dann …«
»Du meinst die Frau von Kurt Gloor?«, unterbrach ihn Winter.
»Ja. Ich hab da was am Laufen … aber das tut nichts zur Sache. Sie fand in seinen persönlichen Files dieselben Namen. Es gibt da ein Projekt, ›Pro Sommer‹ heißt es. Weißt du davon?«
»Keine Ahnung.« Winter schüttelte den Kopf, dachte einen Moment darüber nach und meinte lakonisch: »Also wenn’s
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