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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Wunden?
    Mit einer Brissago zwischen den Zähnen ging der Kommissar Richtung Sihlporte. Die Kälte kitzelte in der Nase und er war froh um seine Wollmütze, die er bis zu den Augenbrauen über die Stirn gezogen hatte. Bei Jecklin im Untergeschoss sah er sich die schwarz-weißen Cover der Jazzplatten an. Bei Oscar Petersons Fly Me To The Moon wurde er schwach; Juliet bekam Astrud Gilbertos Finest Hour und Rosa etwas von Lucio Dalla eingepackt: in blaues Papier mit Silberschleife. Hoffentlich würde er die Päckchen nicht verwechseln.
    Während Eschenbach den kleinen Arm der Sihl überquerte und in die Gessnerallee einbog, sah er beim Haus Ober einen Mann liegen. Oder war es eine Frau? Der Kommissar beschleunigte seine Schritte. Nach dem großen Schaufenster von Sotheby’s, dort, wo eine kleine Treppe zum Eingang einer Bank führte, lag sie. Schultern und Kopf lehnten an der grauen Hauswand, die dünnen Beine waren angewinkelt. Der Kommissar sah in ihr bleiches Gesicht.
    »Hesch mer fünf Franken?« Sie zog eine blonde Strähne durch den Mund. Ihre Lippen waren rissig und der glasige Blick ließ Eschenbach nicht los.
    »Du brauchst Hilfe, Mädchen.« Er reichte ihr die Hand. »Komm, ich bring dich hier weg.« Sie reagierte nicht.
    Als der Kommissar sie bei der Schulter fasste, ihr auf die Beine helfen wollte, wehrte sie sich.
    »Verpiss dich, alter Sack!«
    Er ließ sie los. Was sollte er tun?
    Das Mädchen sah ihn missmutig an. »Wenn du willst, kannst mich ficken. Fünfzig Franken.«
    Eschenbach räusperte sich. »Lass dir doch wenigstens helfen. Hergott noch mal! Hier kannst du nicht bleiben. Ich bring dich zu einem Arzt …«
    Sie schüttelte energisch den Kopf. Dann stand sie auf und machte sich in die Richtung davon, aus der Eschenbach gerade gekommen war.
    »Verfluchter Mist!« Der Kommissar suchte sein Handy, konnte es aber nicht finden. Vermutlich hatte er es in der Kronenhalle liegen gelassen. Dafür fand er das Päckchen, das ihm Kathrin zu Weihnachten geschenkt hatte. Es steckte in der Innentasche seines Mantels, zusammen mit einer Handvoll roter und blauer Feuerzeuge.
    Zwei Kollegen grüßten Eschenbach von der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein zögerliches Winken. Es war halb drei und sie kamen gerade aus dem Restaurant Reitstall . Eschenbach winkte zurück, blieb aber auf seiner Seite. Er musste nachdenken.

    »Rufen Sie einen Streifenwagen, Frau Mazzoleni.« Eschenbach sagte es, noch bevor er den Mantel ausgezogen und den Schnee von den Schuhen gestampft hatte. »Und dann hab ich mein Handy in der Kronenhalle liegen gelassen … Ich wäre froh, wenn es jemand holen könnte.«
    Sie sah ihn mit großen Augen an.
    »Sie sollen die Gegend um die Sihlporte nach einem Mädchen absuchen. Blond, so um die zwanzig. Wahrscheinlich unter Drogeneinfluss.«
    Rosa nahm sich einen Notizblock. »Und dann?«
    »Direkt ins Triemli mit ihr, in die Notaufnahme. Und wenn sie sie gefunden haben, sollen sie mich anrufen. Es ist wichtig.«
    Rosa schrieb und nickte.
    »Avanti, bitte.«
    »Ma si«, fauchte seine Sekretärin. Dann nahm sie den Telefonhörer und wählte.

    Eine halbe Stunde war vergangen und die Polizeistreife hatte sich noch immer nicht gemeldet. Der Kommissar saß in seinem Büro und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Er hatte Judith damals nicht gesucht, als sie davongelaufen war. Später war sie von der Polizei aufgegriffen worden. Christoph und er, selbst noch zugedröhnt von Burris Spezialcocktail, hatten in seinem Studentenzimmer gelegen und gewartet. Einfach nur gewartet. Jetzt musste er handeln.
    »Frau Mazzoleni, Sie sagen, wenn was ist, oder?«
    »Miei nervi!«, kam es aus der Gegensprechanlage. »Es ist aber nichts!«
    Wieder verging eine Weile. Vielleicht müsste er mit mehr Nachdruck an die Sache rangehen, dachte er. Die paar Telefonate, die er kürzlich mit den Anlaufstellen im Sozialdepartement geführt hatte, es war nichts dabei herausgekommen. »Frau Mazzoleni!«, rief er; und als Rosa mit Notizblock und säuerlicher Miene ins Büro kam, fragte er: »Wo ist eigentlich Signore Pestalozzi?«
    »Weshalb fragen Sie?«, kam es misstrauisch.
    »Wir sollten einmal zusammentragen, was im Sozialdepartement der Stadt alles schiefläuft. Es sterben Leute bei uns auf der Straße …« Eschenbach zog die Liste aus der Schublade, die ihm am Morgen anonym zugestellt worden war.
    »Das sagte ich auch, erinnern Sie sich?« Rosa nahm ihre Brille ab, ließ sie am Kettchen baumeln und meinte mit

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