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Eisweihnacht

Eisweihnacht

Titel: Eisweihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Berger
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Berechnung gewesen wäre, das hätte sie doch merken müssen, oder?
    Unwillkürlich zog Elise jetzt einen Vergleich zwischen Carl und dem Pfarrer Gehling. Nichts, aber auch gar nichts lockte sie, mit Gehling auf Türschwellen zu stehen und Liebkosungen auszutauschen. Wie viel Zärtlichkeit würde er von ihr erwarten? Vielleicht sollte es nur rein platonisch sein und sie ihm die Hausfrau spielen. Aber dann wäre es mit den eigenen Kindern auch wieder nichts …
    Apropos Kinder. Wie viele Kinder hatte Gehling noch gleich? Drei, vier, fünf? Sie hatte es sich nicht richtig gemerkt. Was würden die Kinder davon halten, wenn sie nun ins Haus kam und ihnen die Mutter ersetzen sollte? Als ihr eigener Vater damals seine zweite Frau heiratete, hatten sie und ihre Schwester Bärbel das nicht gerade goutiert. Sie hatten der Neuen ganz schön das Leben schwer gemacht. Nur schlecht ertrugen es die Schwestern, wie der Vater seine junge Frau den ganzen Tag gockelgleich umschwänzelte. (Würde Gehling sich auch so aufführen?) «Er benimmt sich wie ein geiler alter Bock», hatte Bärbel, die kein Blatt vor den Mund nahm, Elise einmal zugeflüstert. Die Best-Schwestern hatten sich immer wieder gefragt, ob der Vater denn in seine erste Frau, ihre Mutter, auch so verliebt gewesen war. Das Getue um die Neue war ihnen jedenfalls unerträglich. Bärbel, die jüngere, weder mit einem Hinkebein noch mit einem karottenfarbenen Wischmopp auf dem Kopf gestraft, hatte sich bei der ersten Gelegenheit aus dem väterlichen Haus davongemacht. Mit achtzehn Jahren hatte sie geheiratet und war heute wohlversorgte Kaufmannsgattin und dreifache Mutter. Die Geschwister hatten nur noch wenig Gemeinsames zu bereden und sahen sich nicht oft. Genauso war es mit Elises alten Freundinnen. Nach Bärbels Heirat war zum Glück die verwitwete Tante ins Haus Best eingezogen. Dank Tante Lotte war Elise nicht ganz so einsam.
    Konnte die Schwester ihr raten? Ach, Bärbel würde jetzt im Familienkreis am Kamin sitzen und nicht allein zu sprechen sein. Leider fror Elise allmählich, obwohl sie noch gar keine Lust hatte, wieder nach Hause zu gehen. Seufzend gab sie ihr Glühweinglas zurück und verließ den Christkindchesmarkt. Sie bog in die Saalgasse ein, so halbwegs Richtung Tuchgaden.
    Plötzlich spürte sie Ärger. Mit welchem Recht hatte sich eigentlich der Vater über sie und Carl aufgeregt? Für des Vaters zweite Frau galt doch genau das, was er wegen Carl
ihr
vorgeworfen hatte! Helena Kalter hatte den Vater um seines Geldes willen geheiratet, aus Not vielleicht sogar, nach allem, was Elise wusste. Keine zwanzig war Helena bei der Hochzeit gewesen, eine wirklich schöne junge Person mit großen, strahlenden Augen und einer pudrigen feinen Porzellanhaut und einem Gesicht wie aus einem italienischen Gemälde. Ihr Vater hingegen war bei der Heirat ungefähr so alt gewesen wie Gehling jetzt. Natürlich hatte Helena den Kaufmann Best nicht geliebt. Und da wirft der Vater ihr, Elise, vor, wie sie nur so blöd sein könne zu glauben, dass der Carl Wagner sie liebe, dem gehe es nur ums Geld?
    Ach nein, Elise konnte jetzt noch nicht nach Hause zurück. Sie war zu aufgewühlt, zu unschlüssig auch betreffs Gehling. Vielleicht hatte Schwester Bärbel ja doch Zeit für ein
Tête-à-Tête
, wenn es um eine so wichtige Angelegenheit ging. Kurz entschlossen bog Elise zum Main ab.
    Als sie durchs Geistpförtchen auf den Kai trat, saß hinter dem Torbogen eine Ringeltaube im Schnee, die an etwas pickte. Es war eine Brente. Eine Brente mit einem eingemodelten Herzen. Ein Herz für die Liebe? Elise überkam der Gedanke, dies könne ein Zeichen sein. Doch wofür? Dass sie den Gehling lieben lernen würde? Dann schalt sie sich töricht. Ein eiskaltes Marzi- panherz auf dem Boden hatte mit ihrem Leben nun wirklich nichts zu tun.
    Gleich danach geschah denn auch etwas, das, wenn überhaupt, eher als böses Omen zu werten war. Es war furchtbar glatt am Mainkai. Elise, inzwischen mit vor Kälte tauben Füßen, tapste unsicher bis zum Kaigeländer, das ebenso wie in der Ferne die Brücke dicht an dicht mit Eiszapfen behangen war. Hier angekommen, hielt sie sich fest und warf kurz einen Blick übers Wasser. Der Mainsandstein der Brücke glänzte warm im Licht der untergehenden Sonne; das Eis strahlte, als leuchte es von innen.
    Das Kaigeländer ließ sich wegen der Eiskruste nicht gut anfassen. Doch besser als kein Halt war es allemal. Elise hangelte sich daran entlang Richtung Untermain.

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