Eisweihnacht
einen Arzt. Was macht mer da, Quecksilbersalbe?»
«Ich glaube auch, ich gehe einen Arzt holen», sagte Elise. «Ich fürchte nämlich, du bekommst auch Fieber, stimmt’s, Bübchen?» Sie fasste Josua an die Stirn. Richtig, da entwickelte sich etwas. Außerdem hatte er eben ein paarmal trocken gehustet, und das hatte sich gar nicht gut angehört. Elise griff nach Umhang und Muff. «Marie, Sie versuchen unterdessen, dem Jungen was einzuflößen. Und dann sehen Sie selber zu, dass Sie was in den Magen bekommen.» Sie staunte, wie bestimmt und tantenhaft sie sich plötzlich anhörte. Sonst war ja eher sie es, die von anderen Anweisungen erhielt.
Just jetzt musste natürlich vom Treppenhaus Tante Lotte rufen: «Elise? Elise?»
Auf in den Kampf, dachte Elise, verließ rasch ihr Zimmer, schloss die Tür und ging der Rufenden entgegen.
Sie traf die Tante auf der Treppe, komplimentierte sie gleich wieder nach unten und erklärte ihr in der Diele, was los sei.
«Aber … du kannst doch nicht einfache wildfremde Leute …», wandte Tante Lotte ein.
«Doch, Lottchen, das kann ich», sagte Elise und bekam einen Schreck, dass ihr das «Lottchen» herausgerutscht war. Sonst nannte nur der Vater die Tante so. «Was ich nicht kann», fügte sie schnell hinzu, «das ist, ein Kind in Not und seine Helferin auf der Straße vor Kälte sterben lassen. Und das auch noch kurz vor Weihnachten.»
«Aber … ich mein, du kannst doch nicht jeden Bettler …»
«Es geht nicht um jeden Bettler, Tantchen. Es geht ganz genau um diese beiden Personen, die ich jetzt mitgebracht habe, weil sie mir der Hilfe bedürftig und würdig erschienen.
Jeden
Bettler können wir nicht versorgen. Diese beiden schon.»
«Aber … was wird dein Vater sagen?»
Falls man Zweifel gehabt haben sollte, was der Vater sagen würde, so musste man nicht lange auf Aufklärung warten. Denn der Vater war jetzt hinzugekommen und wollte wissen, was vorgefallen sei.
«Komm, Ernst, lass uns in die Stube gehen und nicht hier in der Kälte stehen», sagte die Tante und griff ihren Bruder am Ärmel. Der schüttelte ihre Hand ab.
«Ich will wissen, was das Gepolter soll. Raus mit der Sprache.»
«Ei, nichts weiter. Die Elise hat von draußen eine Frau und ein Kind mitgebracht, die auf Reisen gestrandet sind und nicht mehr weiterkommen, und die sollen heut Nacht hier schlafen.»
«Was?!»
Elise seufzte und erklärte die ganze Geschichte noch einmal von vorn.
«Ja, wie blöd bist du denn, dass du dich von so was einwickeln lässt?», schimpfte der Vater. «Von wegen, die Frau hat den Jungen gefunden und vorm Erfrieren gerettet. Das ist ihrer! Ihr Sohn ist das! Von wegen Waisenkind! Lügengeschichten sind das, und du bist so blöd, du glaubst alles, was man dir erzählt, und belohnst die Leut noch dafür, dass sie dich anlügen! Ja, ist es denn die Möglichkeit!»
Elise gaben die Worte des Vaters einen Stich. Sie dachte an den Herrenmantel, den die junge Frau trug, den wahrscheinlich gestohlenen. An das warme «Schätzelchen», mit dem sie sich an den Jungen gewandt hatte. War er nicht wirklich ihr Sohn?
«Ach, Papa», sagte Elise traurig. «Der Junge hat erfrorene Füße und Ohren. Wenn ich die Leute jetzt vor die Tür setze, sind sie verloren Es ist bald Weihnachten, die Frau heißt Marie mit Vornamen, und ich hab das als Zeichen vom Himmel genommen. Ich hab halt an Maria und Josef denken müssen, wie sie Herberge gesucht haben und keine bekamen. Lass mir dieses eine Mal meinen Spleen.»
«Herrgott, was hat meine Tochter für krause Gedanken! Das ist ja nichts weiter als eine Legende, die Weihnachtsgeschichte bei Lukas. Diese Volkszählung des Kaiser Augustus gab es nicht, das ist doch jedem Historiker bekannt! Aber meine Tochter läuft herum und sieht Zeichen vom Himmel, weil jemand Maria heißt! Warum hilft Gott nicht selbst den Leuten, wenn es ihn gibt?»
«Vielleicht hilft er ja durch mich», sagte Elise. Sie wusste im Übrigen genau, was jetzt kommen würde.
«Soso», ironisierte der Vater. «Und was ist mit den Leuten, denen niemand hilft? Die elendiglich sterben müssen an Krankheit oder Hunger oder Krieg? Da hat er wohl keine Lust zu helfen, dein Gott? Lass mich dir sagen, Elise, auch wenn die Pfaffen die Menschen mit dem Gegenteil trösten wollen: Es gibt gar keinen Gott. Es gibt keinen guten Vater im Himmel, der die Hand schützend über uns hält. Wir sind ganz allein im Universum und müssen uns durchkämpfen, jeder für sich. Und es ist ganz
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