Eisweihnacht
irgendwie helfen?»
Elise überlegte nicht lange. Aus der Stimme des Mädchens klang ehrliche Not und Verzweiflung. Bei der Kälte keine Unterkunft zu haben war sicher schlimmer als jede von Elises eigenen Sorgen. Zudem, die junge Frau hatte so beherzt dem Jungen geholfen, obwohl sie selbst nicht in der besten Lage war. Nun war es eben an Elise, sich hilfreich zu zeigen. Dumm, dass sie an Geld nur zwei, drei Kreuzer dabeihatte.
«Wie heißen Sie?», fragte Elise das Mädchen.
«Marie Rössler. Ich bin aus Umstadt und auf dem Weg nach Hause. Ich … ich war in Wiesbaden in Dienst.» Das Mädchen erwähnte den Dienst in Wiesbaden mit einem so verschämten Gesichtsausdruck, dass Elise ahnte, mit dieser Auskunft stimmte etwas nicht. Oder vielleicht war die junge Frau von der Herrschaft hinausgeworfen worden und schämte sich deshalb. Der Mantel, der gehörte doch nicht ihr. Erbettelt? Erstohlen?
Elise ging zu dem Jungen, der apathisch am Bordstein kauerte. Auf den ersten Blick begriff sie, der Junge war derart unterkühlt, hier ging es wirklich um Leben und Tod.
Sie ging in die Hocke. «Wie heißt du denn?», fragte sie sanft. Das Kind, das ins Nichts gesehen hatte, blickte kurz auf. Leichenblass war es bis auf die Nase und das Kinn und die Ohren, die Frost abbekommen hatten und sich noch übel entzünden würden. Salz- oder Eiskrusten bedeckten stellenweise das Gesicht.
«Josua», sagte das Kind leise. Der Name hallte nach in Elise. Josua! Vorhin beim Kaffee, als die Pfarrer Wartenstein und Gehling übers Weihnachtsfest disputierten, da war vom Namen Christi die Rede gewesen. Jesus sei eine griechische Form von Josua, hatte es da geheißen, und übersetzt bedeute der Name: Der Herr errette uns. Elise fühlte plötzlich eine große Zärtlichkeit für den Jungen, und eine große Sicherheit, was hier zu tun war. Retten, das war jetzt ihre Aufgabe.
«Ich nehme Sie beide mit zu mir nach Hause», entschied sie und richtete sich auf.
«Du lieber Gott, danke, danke, Fräulein!», sagte das Mädchen, das Marie hieß, und hockte sich sofort ihrerseits vor den Jungen. «Schätzelchen, glaubst du denn, du kannst wieder laufen?»
Der Junge Josua schüttelte den Kopf. Er hatte Tränen in den Augen. «Na, dann», seufzte das Mädchen, streckte die Arme aus, schob sie dem Jungen unter Schultern und Knie und wuchtete ihn stöhnend hoch. «Ich hab ihn nämlich den ganzen Weg getragen, seit ich ihn gefunden hab», keuchte sie, als sie stand. «Ich kann kaum noch.»
«Es ist nicht so weit», sagte Elise, «aber kommen Sie, lassen Sie mich das machen.»
Sie nahm Marie den Jungen ab, der kraftlos in ihren Armen hing und sich rundherum kalt anfühlte. «Aber Sie hinken ja!», rief Marie, sobald Elise zwei, drei mühsame Schritte auf dem glatten Untergrund gegangen war.
«Ich kann trotzdem laufen», gab Elise etwas schroff zurück.
«Nein, bitte, Sie werden hinfallen, es ist so glatt!», rief Marie. «Lassen Sie mich, solange mir nicht gerade die Arme abfallen!»
«Ich bin mein Hinkebein gewohnt, und auch Lasten zu tragen», sagte Elise. «Haken Sie sich einfach an der Seite ein und stützen Sie mich, falls ich rutsche.»
So kamen die drei keine zehn Minuten später im Tuchgaden an. Line, das alte Hausmädchen, staunte sehr, als es die Tür öffnete. «Ei, was ist denn das?», platzte es hervor. (Line kannte Elise etwas zu lange, um förmlich zu sein.) «Gäste», sagte Elise. «Die Herrschaften bekommen bei uns eine Notunterkunft für heute Nacht. Der Junge hat sich verkühlt, Line. Machen Sie doch eine Wärmflasche fertig oder zwei, und ich denke, eine heiße Brühe kann er auch gebrauchen.»
Als es die Treppe hochging, ließ Marie sich nicht mehr abweisen und übernahm das Tragen. Oben legten sie das Kind in Elises Bett und zogen ihm nach und nach die teils steifgeforenen, ja an die Haut angefrorenen Kleider aus. Die Schuhe bekamen sie kaum ab. «Du lieber Gott», hauchte Elise, als sie die Füße sah. Die meisten Zehen waren blaurot und zu dicken Blasen geschwollen.
«Oje, das ist Frost, das sieht schlimm aus», sagte Marie. «Kein Wunder, Schätzelchen, dass du nicht laufen konntest.»
Elise beeilte sich, ein Feuer zu machen. Marie fragte, ob sie in der Küche helfen solle, und Elise stimmte zu. Etwas später kamen Line und Marie gemeinsam hoch, brachten Wärmflaschen und heiße Brühe und Reste von Gebäck von heute Mittag. Als Line nun ihrerseits Josuas Füße sah, rief sie: «Jesses, was Frostbeulen! Der braucht
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