Eisweihnacht
Die rote untergehende Sonne schien ihr entgegen, blendete sie und kitzelte in der Nase, während sie mit gekniffenen Augen den Schlittschuhläufern auf dem Fluss zusah. So erkannte sie zunächst nicht, dass ihr auf der Fahrbahn ein kleiner Brauereiwagen entgegenkam, gezogen von nur einem einzigen mächtigen Kaltblüter, auf den sie erst aufmerksam wurde, als sie am Rand ihres Blickfelds eine ruckartige Bewegung bemerkte. Gleichzeitig erklang ein Schrei. Erschrocken blickte sie hin, da war gerade einmal drei, vier Schritt von ihr entfernt der riesige Kaltblüter ins Straucheln geraten. Das Pferd fing sich wieder. Nun aber rutschte der kleine Fasswagen, den es zog, zur Seite, schlug gegen den Bordstein und kippte; dies wiederum brachte neuerlich das schwere Pferd ins Torkeln, bis es fiel. Elise stolperte ein paar Schritte zurück, um sich vor dem tonnenschweren Zugtier in Sicherheit zu bringen. Das arme Pferd landete auf dem Fußsteig, schlitterte mit dem Schwung des eigenen Gewichtes gegen das eisverkrustete Geländer, dieses brach, und das Tier rutschte halb über den Abgrund. Einen Augenblick hing es in der Balance. Dann brach ein weiterer Geländerstreben unter dem Gewicht. Das Pferd ging über die Kante, der Wagen hinterher. Man hörte einen dumpfen Aufschlag, entweder aufs Eis oder die Anlegestelle oder beides. Elise verspürte kein Bedürfnis, sich an den Abgrund zu stellen und nachzusehen. Sie zitterte am ganzen Leib, der Schweiß brach ihr aus. Was für ein furchtbares Erlebnis. Da sah sie den Kutscher. Er war zu seinem Glück rechtzeitig vom Wagen gefallen oder gesprungen und lag als elendes Häufchen auf dem Kai. Elise ging vorsichtig hin und hockte sich zu dem jungen Mann, der fast noch ein Bursche war. «Wie geht es Ihnen? Sind Sie verletzt?»
«Glaub schon», ächzte der Jüngling. Da fiel plötzlich ein Schatten auf sie und aufs Pflaster. Elise sah hoch und wurde sprachlos. Da stand Carl Wagner. Anders gekleidet, als sie ihn kannte. Aber eindeutig Carl. «Elise», sagte er ruhig, «geh nach Hause ins Warme. Ich kümmere mich um die Schwierigkeiten hier.»
S päter fragte sich Elise, warum sie nicht geblieben war und wenigstens ein, zwei Worte mit Carl gewechselt hatte, ihn gefragt, was er so treibe heutzutage und wie es ihm ging. Er hatte sie vertraut genug angesprochen. Doch es war wohl erstens die Überrumpelung zu groß. Zweitens hörte sie von dem, was Carl sagte, vor allem eines: Geh! Mit anderen Worten, er wies sie fort, und da wollte sie nicht bleiben und ihm lästig fallen.
Elise ging jedenfalls ohne ein weiteres Wort. Weil sie Carls Augen im Rücken wie Eisnadeln spürte, bog sie bei der erstbesten Gelegenheit, nämlich der Leonhardspforte, weg vom Kai. Sie war in Aufruhr. Kein klarer Gedanke wollte sich fassen lassen. Warum musste sie ausgerechnet heute Carl wiedertreffen? Und warum ausgerechnet auf diese Weise? So sehr war sie in Grübeleien vertieft, dass sie nicht gleich reagierte, als sie am Leonhardskirchhof angesprochen wurde.
«Fräulein? – Fräulein?»
Die da sprach, war selber eine junge Frau, weit jünger als Elise, ein Mädchen noch. Sie trug einen dunkelblauen Wollmantel, der ihr viel zu groß war und wie ein Herrenmantel aussah, ein Uniformmantel ohne Schulterstücke wohl gar; um den Kopf hatte sie ein großes wollenes Tuch in Grün geschlungen. Ihre Wangen, Nase und Kinn waren rot vor Frost. Ein wenig wirkte das Mädchen in seinem zusammengewürfelten Aufzug wie eine Bettlerin. Im Hintergrund sah Elise einen dunkelhaarigen Jungen mit einer schiefen Mütze zusammengekauert auf dem Boden sitzen. Zigeuner?
«Ja?», sagte Elise.
«Fräulein, können Sie mir vielleicht helfen? Ich bin heute von Höchst nach Frankfurt gelaufen, und da hab ich unterwegs diesen Jungen gefunden, wie er schlafend im Schnee lag und fast erfroren war. Irgendwie hab ich ihn hierherbekommen. Nun müsste er aber dringend ins Warme, wenn er nicht doch noch erfrieren soll. Er ist wohl ein Waisenjunge, das heißt, ganz frisch verwaist. Er sagt, heute Nacht wäre er aus Camberg von seinen Verwandten nach Frankfurt losgeschickt worden, wo er einen Onkel haben soll, den er aber gar nicht kennt. Er hat einen Brief an den Onkel dabei, doch an der Adresse auf dem Umschlag macht uns niemand auf, und ich weiß nun nicht mehr, was ich tun soll. Ich selbst wollte eigentlich heute noch Richtung Darmstadt weiter, nun bin ich durch den Jungen so lange aufgehalten worden und ganz erschöpft … bitte, könnten Sie
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