Eiswind - Gladow, S: Eiswind
meldete. Es war, als gäbe es zwischen ihnen eine stille Übereinkunft, und sie enttäuschte ihn nie. Die Verlässlichkeit ihrer Bewegungen war zu einem gemeinsamen und vertrauten Ritual geworden.
Eine Art Geheimsprache, mit der sie ihm signalisierte, dass er nicht allein war. Zugegeben – es war ungewöhnlich, dass sie ausgerechnet ihn auserwählt hatte, aber so war es nun mal.
Vor drei Wochen hatte sie sich zu ihm umgedreht, ihm in die Augen gesehen und den bestehenden Bund bestätigt. Für jeden anderen hätte dieser Blick vielleicht nichts bedeutet. Er wusste jedoch, dass diese scheinbar kleine Geste seine Welt verändern sollte. Er spürte, dass sie ihn verstand, und war nun ganz sicher, dass sie sich nach ihm ebenso sehnte, wie er nach ihr.
Suchend hielt er auf dem Sportplatz Ausschau nach ihr. Sie gehörte zu den Läuferinnen des Leichtathletikteams der Schule. Er wollte vermeiden, dass sie ihn ansah. Sein magerer Körper passte zu den kurzen Sportshorts und dem Laufshirt wie eine Badehose in den Weltraum.
Noch heute wollte er sie endlich ansprechen. Am Abend der Urkundenverleihung und dem damit verbundenen jährlichen Sommerfest.
Ein freudiger Schauder der Erwartung durchzuckte seinen ganzen Körper. Er machte den Anlauf zum Weitsprung. Sein Kopf trieb seine ungelenken Beine an. Dann überschritt er die Markierung. Der Versuch war ungültig, aber es störte ihn nicht. Sie verlieh ihm einen Panzer, der die Dinge erträglicher machte, ja ihm nahezu das Gefühl der Unbesiegbarkeit verschaffte. Er fragte sich, wie er je ohne sie hatte leben können.
Ihm gelang leidlich ein zweiter Sprungversuch, und er verzichtete auf den dritten. Er hatte seine Pflicht erledigt, seine Aufgabe erfüllt und machte sich auf den Weg zu den Umkleidekabinen.
Er passierte den schmalen Gang, der zwischen den Tribünen zu den Waschräumen führte, und spülte sich am Becken das Gesicht ab. Die Umkleidekabine war voll von seinen johlenden Mitschülern. Die Jungs klatschten sich gegenseitig ab, verglichen ihre erreichten Punkte und prahlten herum. Sie stießen sich an und grinsten, weil er wieder nicht duschte, sondern einfach nur seine Jeans über seine Shorts streifte. Er hatte nicht vor, seinen Körper zur Schau zu stellen und sich ihrem unvermeidbaren Gelächter auszusetzen.
Ferdi kam in die Kabine, und es wurde gejohlt und applaudiert. Er gehörte mal wieder zu den Besten und ging an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Er sah einfach über ihn hinweg, als sei er Luft für ihn. »Dein Bruder, die alte Drecksau«, sagte Volker aggressiv zu ihm, »hat wieder mal nicht geduscht!«
Plötzlich war es still im Raum, und Ferdi, der gerade dabei war, sein T-Shirt abzustreifen, drehte sich ganz langsam zu seinem Mitschüler um. Er musterte Volker voller Verachtung. Jeder wusste, dass man gegenüber Ferdi nicht ungestraft über seinen »Bruder« sprechen durfte.
»Vielleicht will er ja noch zu deiner Mutter, der Hure!«, konterte er schlagfertig. »Da wäre doch wohl jeder Tropfen Wasser zu schade, oder?«
Er hatte es kaum ausgesprochen, als sie schon aufeinander losgingen. Sie rollten über den glitschigen Boden der Umkleide, und es gelang Ferdi, zwei gute Treffer auf Volkers Kinn zu landen. Der heulte auf, gab aber immerhin zwei Schläge in die Magengrube zurück.
Die umstehenden Jungs feuerten die Kampfhähne an, und der Geräuschpegel wuchs stärker an als draußen auf dem
Sportplatz. Immerhin dauerte es nicht lange, bis ein Lehrer den Trubel bemerkte und sie trennte.
»Was ist hier los?«, herrschte Dr. Jakob Ferdi und Volker an, während er sie gemeinsam mit zwei anderen Jungen nur mit Mühe davon abhalten konnte, erneut aufeinander loszugehen.
»Volker hat meinen Bruder beleidigt!«, sagte Ferdi wütend und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er freute sich diebisch über die klaffende Wunde an Volkers Lippe, während der mit gequälter Miene seine Hand auf die zusätzlich lädierte Nase presste und das Blut hochzog.
Dr. Jakob nickte. Natürlich musste er beide Jungen zur Verantwortung ziehen. Dennoch galt Ferdinands Adoptivbruder als Problemschüler, und wann immer Ferdi öffentlich für ihn eintrat, wurde es insgeheim vom Lehrstuhl gutgeheißen. Zwar war Ferdinand knapp ein Jahr jünger als sein Adoptivbruder, er wirkte jedoch allein aufgrund seiner kräftigen Statur, seiner makellosen Haut und der markanten Gesichtszüge ungleich älter und robuster.
Sein Adoptivbruder
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