Eiswind - Gladow, S: Eiswind
die einsame Stelle gelangt, wo der Täter die Zeugin töten wollte.«
»Puh«, machte Anna. Sie erschauderte bei dem Gedanken, dass diese Frau nur um Haaresbreite davongekommen war.
»Der Förster«, setzte Bendt seine Erzählung fort, »hat leider den Täter selbst nicht gesehen. Er war wohl etwas überfordert damit, plötzlich eine völlig aufgelöste Frau in seinem Revier vorzufinden.«
»Was ist mit dem Hund?«, fragte Anna besorgt.
»Der Hund hat durch den Köder Rattengift zu sich genommen und wurde wohl bereits tierärztlich versorgt. Alles halb so schlimm. Wo ist übrigens Ihr Vierbeiner heute?«, unterbrach er sich.
»Im Auto«, antwortete Anna. »Er schläft ganz ruhig und zufrieden.«
Bendt nickte. »Wir wissen jetzt, dass der Täter seinen Köder stets an einem Strick befestigt hat, um die jeweilige Besitzerin dazu zu nötigen, ihrem Hund zu einer abgelegenen Stelle in den Wald zu folgen. Auf diese Weise konnte er die Tiere daran hindern, mit ihrer Beute davonzurennen. Diesmal ist es ihm wohl
nicht mehr gelungen, den Strick wieder von dem Fleischstück zu lösen.«
»Vielleicht haben wir Glück«, hakte Anna ein, »und können diesmal DNA-Spuren sichern.«
»Vielleicht«, seufzte Bendt hoffnungsvoll. Er blickte Anna in die Augen, und es entstand eine kleine Pause.
Sie wich seinem Blick aus und sah auf die Uhr. »Es ist schon nach elf«, stellte sie fest. »Die Zeugin müsste jeden Moment kommen.«
»Die Presse wird sich auf sie stürzen, sobald sie davon erfährt«, gab Bendt zu bedenken.
»Wir müssen sie darauf vorbereiten«, griff Anna seine Besorgnis auf. »Auch der Täter wird versuchen, aus der Presse Informationen darüber zu erlangen, ob man ihm auf der Spur ist.«
»Vor allem darüber, inwieweit sie ihn beschreiben kann«, ergänzte Bendt. »Er wird sich verwundbarer fühlen, wenn er in der Angst leben muss, erkannt worden zu sein.«
»Ist der psychologische Sachverständige schon informiert?«, forschte Anna. »Das bisher erarbeitete Täterprofil ist ja ziemlich dürftig.«
Bendt gelang es nicht mehr, Annas Frage zu beantworten, da in diesem Augenblick die Zeugin hereingeführt wurde.
»Guten Morgen, Frau Kilian«, begrüßte er sie freundlich und reichte ihr die Hand. »Das ist Frau Staatsanwältin Lorenz«, stellte er dann Anna vor. »Sie wird heute an der Vernehmung teilnehmen.«
Anna begrüßte die junge Frau, die von dem Geschehen
sichtlich mitgenommen wirkte. Sie fragte sich, wie es wohl sein mochte, mit dem Bewusstsein zu leben, dem Tod gerade noch einmal entkommen zu sein.
»Schön, Sie so wohlbehalten zu sehen«, sagte Anna freundlich, während sie Nadja Kilian die Hand schüttelte. »Wir sind Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie sich trotz des Schocks so kurzfristig bereit gefunden haben, hier zu erscheinen.«
»Ich bin immer noch so aufgeregt«, antwortete Nadja Kilian, »dass ich im Grunde ganz froh bin, nicht zu Hause sitzen und darüber nachdenken zu müssen.«
Anna nickte verständnisvoll. Sie war verblüfft darüber, dass die Zeugin sich bereits wieder derart gesammelt hatte. Offensichtlich hatte sie sich umgezogen, da sie Jeans und einen Rollkragenpullover trug und sich geschminkt hatte.
Wahrscheinlich wird sie einige Tage brauchen, um wirklich zu begreifen, was mit ihr passiert ist, dachte Anna. Es war nicht unüblich, dass Menschen, die derartige Grenzerfahrungen gemacht hatten, sich zunächst mit ganz alltäglichen Tätigkeiten befassten, um zur Normalität zurückzufinden.
»Vielleicht hilft Ihnen die Schilderung des Geschehens, um das Erlebte besser verarbeiten zu können«, sagte sie sanft.
»Eine Ihrer Kolleginnen war so freundlich, bei mir in der Wohnung zu bleiben, bis meine Eltern eingetroffen waren«, berichtete die Zeugin.
Während Bendt Nadja Kilian mit Tee versorgte, erkundigte sich Anna zunächst ausgiebig nach ihrem
Hund und versuchte so, ein wenig Vertrautheit herzustellen.
Dann begannen sie mit der eigentlichen Vernehmung. Die Zeugin berichtete zunächst detailliert über das Geschehen am Morgen, bevor sie schließlich zur Beschreibung des Täters kam.
»Ich hab ihn kaum gesehen«, beantwortete sie kopfschüttelnd Bendts Frage nach dem Aussehen des Mannes. »Es ist so schrecklich schnell gegangen.«
Sie blickte versunken in ihre Tasse, die sie fest mit beiden Händen umschloss, als müsse sie sich daran festhalten. »Er trug eine dunkle Jacke und eine Wollmütze«, fuhr sie fort. Ihr war anzusehen, dass sie sich große Mühe gab,
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