Eiswind - Gladow, S: Eiswind
hatte sich zu ihm auf den Weg gemacht, und es würde nicht mehr lange dauern. Er vermochte die innere Anspannung kaum noch zu ertragen und war gierig darauf, sie endlich bei sich zu wissen und ihre Angst riechen zu können.
Nun war sie so weit herangekommen, dass er den roten Schriftzug auf ihrer dunkelblauen Laufjacke erkennen konnte. Sie keifte wie ein Fischweib, während sie durch das Gehölz stolperte. Fast hatte sie ihn schon erreicht. Es trennten sie nur noch wenige Schritte von ihm.
Er war gerade so weit, aus seiner Deckung herauszutreten,
als er in der Ferne ein weiteres Rufen vernahm. Hektisch blickte er sich um und erspähte die Silhouette eines Mannes. Er presste die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und erkannte schließlich, dass es der Förster sein musste, der mit seinem Jagdhund durch den Wald streifte.
Sie hatte jetzt ihren Hund erreicht und packte ihn am Nacken. Er blickte erneut in Richtung des Försters und erkannte zu seinem Entsetzen, dass dieser auf sie zusteuerte. Nun war es ihm unmöglich, sein Vorhaben zu vollenden.
Er trat aus seiner Deckung, und sie schrie auf, als sie ihn entdeckte. Ihre Augen weiteten sich, und er konnte einfach nicht umhin, stehen zu bleiben und wenigstens für einen Moment die Angst in ihren Zügen aufzusaugen.
In einem Akt höchster Selbstbeherrschung widerstand er der Versuchung zuzustechen. Er riss an dem Strick, um dem Hund den Köder zu entreißen, was misslang, da der Strick sich im Gehölz verfing, sodass er davon ablassen musste.
Er floh.
26. KAPITEL
A nna wollte gerade das Gebäude der Staatsanwaltschaft betreten, als ihr Handy klingelte. Seufzend blieb sie stehen und fischte es aus ihrer Handtasche.
»Lorenz«, meldete sie sich, den Apparat zwischen Schulter und Kinn geklemmt, während sie mit ihrer Chipkarte die schwere Tür öffnete.
»Guten Morgen, Frau Lorenz«, vernahm sie Bendts Stimme.
Anna freute sich, von ihm zu hören. Auch wenn sie es ungern zugab, hatte sie in den vergangenen Tagen mehrfach an die nette Mittagspause am Hafen denken müssen.
»Guten Morgen, Herr Bendt«, grüßte sie freundlich zurück, »was gibt’s?«
»Wir haben eine Zeugin, die den Täter gesehen hat«, antwortete er.
Anna blieb unwillkürlich stehen. »Wir haben was ?«, fragte sie gleichermaßen ungläubig wie gespannt. Bendt berichtete ihr von einem erneuten Mordversuch, der nur durch das zufällige Hinzutreten eines Försters vereitelt worden war.
Anna atmete erleichtert auf. »Was für ein Glück!«, sagte sie dann. »Mir ist allerdings völlig unverständlich,
wie man als Frau im Moment überhaupt durch Lübecks Wälder joggen kann.«
»Mir auch«, bestätigte Bendt, »aber das ist ja kein ungewöhnliches Phänomen. Man glaubt immer, man selbst sei nie betroffen. Jack the Ripper hat die Londoner Prostituierten des neunzehnten Jahrhunderts auch nicht daran gehindert, ihrer Tätigkeit nachzugehen.«
»Na ja, das ist vielleicht doch noch etwas anderes«, gab Anna zu bedenken. »Kann die Zeugin den Täter näher beschreiben?«, fragte sie dann.
»Das wollen wir noch heute in Erfahrung bringen«, gab Bendt zurück. »Die Zeugin wird um elf Uhr im Präsidium vernommen. Wenn Sie teilnehmen möchten, sind Sie uns natürlich herzlich willkommen.«
»Das werde ich mir nicht nehmen lassen!«, antwortete Anna. »Selbstverständlich komme ich.«
Sie beeilte sich, im Büro das Nötigste zu erledigen, und verwendete sogar einige Mühe darauf, ihr Make-up aufzufrischen.
Im Präsidium der Mordkommission wies sie sich am Eingang aus und wartete auf Bendt, der sie am Empfang abholte und in das Vernehmungszimmer führte. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, dass Hauptkommissar Braun nicht im Büro war. Bendt erzählte ihr, dass Braun am Vortag nur ungern in den Urlaub an die Schlei gefahren war, dort jedoch im Notfall jederzeit erreichbar sein würde. Er schenkte Anna einen Kaffee ein und nutzte die Zeit, in der sie auf die Zeugin warteten, um ihr von der vor einer Stunde durchgeführten Vernehmung des Försters zu berichten.
»Nadja Kilian, so heißt die Frau, die dem Mörder nur knapp entkommen ist«, sagte er, »hatte eindeutig einen Schutzengel. Diesmal hat der Täter übrigens wieder im Lauerholz zugeschlagen.
Der Förster hat sich darüber geärgert, dass wieder mal ein Hund unangeleint durch den Wald streunte, und hat sie zur Rede stellen wollen. Nur deshalb ist er ihr gefolgt. Als er das Tier entdeckte, hat er seinen Weg verlassen und ist so an
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