Eiswind - Gladow, S: Eiswind
den Kindern dort unglaubliche Möglichkeiten, sich zu entfalten. Die Schule war besonders teuer, und mein Mann und ich mussten uns krummlegen, um Sabrina ihren Wunsch schließlich erfüllen zu können.«
»Aber lange war sie dann schließlich nicht dort?«, fragte Bendt jetzt doch interessiert.
Frau Mertens schüttelte den Kopf. »Nur ein Jahr«, antwortete sie. »Sabrina hat damals ihre Jugendliebe kennengelernt.« Sie seufzte. »Ich hab den Jungen aber nur einmal gesehen.«
»Und was hat das mit ihrem Schulwechsel zu tun?«, hakte Anna nach. Sie konnte sehen, dass es Frau Mertens schwerfiel, über die genauen Umstände zu sprechen.
»Der Junge ist damals tragisch verunglückt«, sagte sie, bevor ihre Stimme brach und ihr die Tränen in die Augen traten.
Betroffen fischte Anna ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und reichte es ihr.
»Entschuldigung«, schluchzte Frau Mertens, »aber es ist so furchtbar. Ich habe mich damals immer gefragt, was die Eltern dieses Jungen durchmachen müssen. Es gibt ja nichts Schlimmeres, als sein Kind zu verlieren, und nun ist es uns selbst passiert.«
Anna schluckte und musste sich sichtlich zusammenreißen, um nicht vor Mitgefühl ebenfalls in Tränen auszubrechen. Sie reichte Frau Mertens die Teetasse.
»Danke«, sagte diese dankbar und fuhr fort: »Der Junge ist wohl nachts in das Schwimmbecken der Sportanlage gefallen und hat sich vermutlich am Beckenrand den Kopf aufgeschlagen«, berichtete sie. »Er muss durch den Aufprall bewusstlos geworden sein und ist schließlich ertrunken.«
»Das ist ja tragisch«, sagte Anna erschüttert.
»Ja«, bestätigte Frau Mertens mit einem tiefen Seufzer. »Er muss nachts schwimmen gegangen sein oder wollte schwimmen.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte sie dann. »Jedenfalls ist er verunglückt. Danach hatte Sabrina viele Jahre lang keinen Freund mehr und hat später … wie soll ich sagen …« Sie zuckte mit den Schultern. »Später hat Sabrina einiges nachgeholt.«
Anna nickte. »Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich noch einmal Zeit für uns genommen haben«, sagte sie schließlich. Sie kam sich plötzlich albern vor, Frau Mertens erneut belästigt zu haben.
»Das geht schon in Ordnung«, sagte Frau Mertens. »Ich will ja gerne helfen.« Sie blickte Anna einen Moment lang an, stand dann auf, ging zum Wohnzimmerschrank
hinüber und öffnete eine Schublade. Vorsichtig holte sie ein Buch heraus, strich zärtlich über den Einband und kam damit zurück an den Tisch.
»Das ist Sabrinas Tagebuch«, sagte sie zögernd, bevor ihre Stimme erneut brach. »Ich habe es in einer Kiste im Keller entdeckt«, fuhr sie nach einer kurzen Weile gefasster fort und streckte Anna das kleine Buch entgegen.
»Nehmen Sie es!«, sagte Frau Mertens mit Nachdruck, »wenn Sie meinen, es könnte Ihnen nützen. Ich habe es erst vor einigen Tagen gefunden, aber nicht darin gelesen. Ich bin der Meinung, dass meine Tochter …« Sie stockte wieder. »… dass meine Tochter auch nach ihrem Tod ein Recht auf ihre Privatsphäre hat. Ich hätte es ihr mit ins Grab gelegt, wenn ich es vor der Beerdigung gefunden hätte.«
Anna nahm den Band behutsam entgegen. Jetzt standen ihr wirklich die Tränen in den Augen. »Haben Sie wirklich nichts dagegen, wenn ich es mitnehme und darin lese?«, fragte sie sanft. Anna vermied es bewusst, den Begriff »auswerten« zu verwenden.
»Es ist mir recht«, antwortete Frau Mertens. »Ich möchte Sie nur bitten, dass nur Sie es lesen und nicht jeder x-Beliebige …« Sie brach ab.
»Sie können ganz unbesorgt sein«, beruhigte sie Anna. »Ich werde es lesen und schwöre, keinem auch nur ein Wort zur Kenntnis zu geben, wenn es für die Ermittlungen nicht von Belang ist.«
Frau Mertens blickte Anna einen Moment lang versunken an. »Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagte
sie dann und blickte verschwörerisch auf Annas Bauch.
Die Staatsanwältin sah Frau Mertens verblüfft und gleichzeitig ein wenig ängstlich an, da sie fürchtete, diese könnte ihr Geheimnis offenbaren.
»Passen Sie gut auf sich auf«, mahnte Frau Mertens jedoch nur. Dann wandte sie sich ab, und ihr Blick schien sich in der spiegelnden Fensterscheibe ihres Wohnzimmerfensters zu verlieren.
35. KAPITEL
A nna war sich nicht sicher gewesen, ob es eine gute Entscheidung war, trotz der häufig auftretenden Übelkeit ihren anstehenden Nachtdienst wahrzunehmen. Schließlich hatte sie sich aber doch dafür
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