Eiswind - Gladow, S: Eiswind
an dessen Seiten eine schwere Tagesdecke bis auf den Boden herabhing, ein geeignetes Versteck zu finden gewesen wäre.
Ob es auch hier ein solches Versteck gab? Bei dem Gedanken, sich eine ganze Nacht lang unter dem Bett der Staatsanwältin zu verstecken, durchzuckte ihn ein heißer Schauder, und er stieg die Kellertreppe wieder hinauf. Es musste eine weitere Möglichkeit geben, in das Haus zu gelangen.
Von der Trave aus wehte ihm ein starker Wind entgegen, als er die Rückseite des Hauses erreichte. Hier gab es keine Hecke, denn das Grundstück grenzte direkt an das Wasser, auf dem trotz des eisigen Windes einige Segelboote hin und her schipperten. Er blickte durch die Terrassenfenster in die Küche, gierig darauf, endlich hineinzukommen, um auch diese Frau zu erforschen.
Auch Sabrina und die anderen hatte er erforscht. Ihre Wohnungen zu studieren hatte ihn mit höchster Erregung erfüllt. Seine Opfer waren für ihn wie Mäuse in einem Käfig, den er erschaffen hatte und den sie nicht wahrnehmen konnten.
Er fröstelte, während er sich gleichzeitig an der Erinnerung daran wärmte, wie es gewesen war, in Sabrina Mertens’ Bett zu liegen, über die Buchrücken
ihrer auf dem Nachttisch abgelegten Lektüre zu streichen und die Nase in ihrem Nachthemd zu vergraben.
Die Hitze, die dieser Gedanke zwischen seinen Lenden ausbreitete, ließ ihn wohlig aufstöhnen. Er wollte unbedingt hinein!
34. KAPITEL
A nna war unruhig, als sie mit Kommissar Bendt auf das Haus der Familie Mertens zuging. Sie hatte lange mit sich gerungen, ob sie sich wirklich dazu in der Lage sah, einer anderen Mutter gegenüberzutreten, die ihr Kind unter weit grausameren Bedingungen verloren hatte als sie selbst. Dementsprechend groß war der Kloß in ihrem Hals, als sie den Klingelknopf drückte.
Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Frau Mertens ihnen öffnete und sie hineinbat. Sie wirkte blass, aber gefasst. Lediglich in ihren Augen waren der unermessliche Schmerz und die Selbstbeherrschung zu lesen, die es sie kosten musste weiterzuleben.
Frau Mertens lotste die beiden Beamten über den Flur in das gepflegte und aufgeräumte Wohnzimmer. Anna war überzeugt davon, dass sich kein einziges Staubkorn in diesem Raum finden lassen würde. Wahrscheinlich bot die Hausarbeit dieser Frau Ablenkung.
Anna bedankte sich dafür, dass Frau Mertens sich bereitgefunden hatte, sie zu empfangen. Sie nahmen am Wohnzimmertisch Platz, auf dem schon Tee und Gebäck bereitgestellt waren.
»Ich habe vor gar nicht langer Zeit mein Baby verloren«,
sagte Anna leise, »und kann vielleicht ein bisschen ermessen, was Sie gerade durchmachen müssen.«
Frau Mertens nickte, und in ihren Augen konnte Anna das Mitleid erkennen, das sie trotz ihres eigenen schweren Schicksals für Annas Situation zu empfinden schien.
»Ich würde Ihnen so gerne helfen, die Tat aufzuklären«, sagte Frau Mertens niedergeschlagen und blickte Anna und Bendt traurig an. »Aber ich fürchte, ich habe alles gesagt.« Sie nahm Annas Angebot, für sie den Tee einzuschenken, dankend an.
»Ihre Tochter und Karen Seeland«, fragte Anna nun, »die kannten sich doch schon aus der Schulzeit, oder?«
»Ja«, bestätigte Frau Mertens und nahm ihre Tasse entgegen. »Warum ist das wichtig?«
»Gab es vielleicht damals jemanden …«, Anna überlegte einen Moment, »war da vielleicht ein Junge, mit dem es Probleme gab?«
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Frau Mertens mit Nachdruck. »Ich habe das aber alles schon ausgesagt.«
Anna fühlte sich schuldig, weil sie sie offensichtlich völlig sinnlos erneut mit Fragen belasteten.
»Sabrina und Karen waren ungefähr siebzehn, als sie sich kennenlernten, und seitdem die besten Freundinnen«, fuhr Frau Mertens fort. »Es hat nie Ärger gegeben.«
»Sie haben sich erst mit siebzehn kennengelernt?«, fragte Anna erstaunt. »Ist eine von beiden zuvor auf eine andere Schule gegangen?«
Bendt warf Anna von der Seite einen Blick zu, der ihr signalisierte, dass er die Frage für völlig unerheblich hielt.
»Meine Tochter war zuvor auf einem Internat in Elisenlund bei Flensburg«, antwortete Frau Mertens und stellte ihre Tasse ab. »Wir waren damals nicht besonders begeistert darüber, dass sie auf ein Internat wollte, aber sie hatte eine Freundin, die dort war und ihr immerzu davon vorschwärmte. Sie wissen ja, wie Teenager sind.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Sabrina hatte eine starke Persönlichkeit. Außerdem war sie sehr sportlich. Und man bot
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