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Eiswind - Gladow, S: Eiswind

Titel: Eiswind - Gladow, S: Eiswind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gladow
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entschieden.
    Nachtdienst bedeutete vor allem, ein, zwei Anrufe entgegenzunehmen, weil sich ein paar Beamten der Kriminalpolizei wieder einmal nicht trauten, irgendeine Durchsuchung durchzuführen, oder nicht wussten, ob jemand in Untersuchungshaft genommen werden durfte.
    Anna hatte in den vergangenen Jahren nicht eine Situation erlebt, in der sie wirklich zu einem Tatort hätte ausrücken müssen. Das kam alle hundert Jahre einmal vor, und selbst wenn es Probleme geben sollte, hätte sie immer noch die Möglichkeit, Oberstaatsanwalt Tiedemann anzurufen und um seine Hilfe zu bitten. Schon am ersten Tag ihrer Arbeit in seiner Abteilung hatte er zu ihr gesagt, dass sie keine Scheu haben müsse, ihn selbst nachts aus dem Bett zu klingeln. Anna war überzeugt davon, dass er es ernst gemeint hatte.
    Sie hatte den Vormittag damit verbracht, Zeitungsannoncen für Immobilien zu studieren und einige Makler
zu beauftragen, denn Anna hatte beschlossen, ein Heim für sich und ihr Kind zu suchen. Weiterhin in Toms Haus zu wohnen erschien ihr im Hinblick auf ihre neue Lebenssituation nun gänzlich unangemessen.
    Sie suchte nach einer Erdgeschosswohnung mit Garten oder einem kleinen Reihenhaus zur Miete. Einige der Anzeigen erschienen vielversprechend, und Anna hatte für die kommende Woche bereits einige Besichtigungstermine vereinbart. Außerdem hatte sie auf den gängigen Immobilienseiten des Internets gesucht, und auch hier schien es passende Objekte zu geben.
    Anna war entschlossen, gemeinsam mit ihrem Kind einen Neuanfang zu wagen. Trotz aller Schwierigkeiten, die vor ihr liegen mochten, freute sie sich von Stunde zu Stunde mehr auf das Baby.
    Immerhin war sie sich in diesem Punkt über ihre Gefühle im Klaren. Was Georg betraf, wusste sie dagegen nicht einmal entfernt, wie es mit ihnen weitergehen sollte.
    Seit Georg vor zwei Tagen mit Ben Bendt zusammengestoßen war, hatte er sich nicht wieder bei ihr gemeldet. Anna hatte unzählige Male den Hörer in die Hand genommen, um ihn anzurufen, aber im letzten Moment doch wieder aufgelegt und von ihrem Vorhaben abgelassen.
    Nachdenklich knipste sie das Oberlicht in der Küche an und blickte versunken auf die wenigen Schiffe, die sich angesichts des anhaltend kalten Wetters auf das Wasser verirrt hatten.
    Weiterhin direkt an der Trave zu leben würde sie
sich alleine nicht mehr lange leisten können, wenngleich sie sicher war, dass Georg sie finanziell unterstützen würde, wenn er erführe, dass er der Vater ihres Kindes war. Wann immer ich Sehnsucht nach den Seeschiffen und Großfähren habe, werde ich den Reisenden vom Hafen aus zuwinken, tröstete sie sich.
    Als es abends immer dunkler wurde, verriegelte Anna gewissenhaft die Haustür und ließ die Außenrollläden der Terrasse hinunter. Sie hatte sich eine Pizza bestellt und mit Heißhunger verzehrt und Hubert das eine oder andere Stück vom Rand gegönnt.
    Jetzt lag der Hund zufrieden und lang ausgestreckt neben ihrem Sofa, auf dem sie es sich mit einer Wolldecke gemütlich gemacht hatte. Hubert war den ganzen Tag sehr unruhig gewesen, schien es ihr. Er hatte permanent angeschlagen und war nicht müde geworden, sie immer wieder mit wedelndem Schwanz aufzufordern, ihn in den Garten zu lassen, um dort herumzujagen und zu bellen.
    Jetzt schien er erschöpft zu sein. Auch Anna fühlte sich an diesem Abend besonders müde. Sie widerstand der Versuchung, sofort ins Bett zu gehen, griff stattdessen nach Sabrina Mertens’ Tagebuch und betrachtete eine Weile den zerschlissenen dunkelroten Filzeinband. Gedankenverloren fuhr sie mit der Hand die Linien der Goldbuchstaben nach, die das Wort »Tagebuch« ergaben, und schlug es schließlich auf.
    Die Eintragungen begannen im Jahr 1995. Anna schmunzelte bei dem Anblick der Engelglanzbilder und Herzchenaufkleber, die die erste Seite verzierten,
und fühlte sich sofort an ihr eigenes Tagebuch erinnert, dessen Einband sie ganz ähnlich gestaltet hatte.
    Sabrina muss damals um die zwölf Jahre alt gewesen sein, dachte sie. Bei dem Gedanken, die Vergangenheit einer Toten in Händen zu halten, überkam sie ein Gefühl von Trauer. Sie trank einen Schluck aus ihrem halb vollen Rotweinglas, das sie sich nach Aussage ihres Arztes ohne Bedenken ab und zu gönnen durfte, stellte es wieder ab und begann dann zu lesen.
     
     
    6. Juli 1995 in Lübeck
    Liebes Tagebuch!
    Mir geht es gut. Die Klassenreise war soooo toll. Ich habe mit Andi Blues getanzt. Wir gehen jetzt zusammen. Nina und Julia sind

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