Eiszeit in Bozen
Ursprung der
Stimme nur erahnen. Er wandte sich fragend Baroncini zu, der mit den Schultern
zuckte. Vincenzo wusste, dass es zu spät war. Er setzte die Waffe mit Druck an
sein Ohr.
Mit einem Satz sprang Baroncini vor und schrie: »Nein, halt, stopp,
warten Sie, Mauracher hat Gianna!«
Vincenzo zog langsam seinen Zeigefinger vom Abzug. Was hatte der
Vice-Questore gerade gesagt?
Baroncini schrie weiter: »Bellini, haben Sie mich verstanden?
Mauracher hat Ihre Gianna gefunden. Sie ist frei, sie lebt!«
»Zu spät!«, ertönte ein Schrei aus der anderen Richtung.
Vincenzo sprang auf, sah in den Hang, konnte sehen, wie jemand
mitten in den Weinbergen in Richtung Straße rannte. Oberrautner. Er war sehr
schnell. Vincenzo zögerte keine Sekunde. Er legt an, feuerte in Richtung des flüchtenden
Verbrechers, immer wieder, bis sein ganzes Magazin leer war. Die Schüsse
peitschten laut durch die stillen Weinberge. Wie bei einem merkwürdigen Konzert
wurde der laute Knall der Schüsse von einem wiederholten, langsam näher
rückenden Donnergrollen begleitet.
Im Bruchteil einer Sekunde hatte Baroncini eine Entscheidung
getroffen. Er wollte das Leben eines seiner besten Polizisten, eines Menschen
von herausragendem Charakter, retten, auch wenn er dazu der Intuition einer
Polizistin in Ausbildung vertrauen und darauf hoffen musste, dass sie Gianna
fand, bevor eine Umkehr durch das Unwetter unmöglich gemacht wurde oder
Oberrautner sie erreicht hatte.
Bellinis Kugeln hatten ihr Ziel verfehlt. Bis Verstärkung eintraf,
war der Spielführer im wahrsten Sinne des Wortes über
alle Berge.
***
Presanellagletscher, 13.05 Uhr
Sabine Mauracher näherte sich langsam der schmalen
Querspalte. Die Stimmung war beklemmend, bedrohlich. Der Wind wurde immer
stärker, er trieb kleine Schneebröckchen vor sich her, die von der Seite auf
ihre Wange trafen. Das Donnergrollen nahm zu, es kam jetzt aus zwei Richtungen
gleichzeitig, vom Monte Tornale und direkt vom Presanellagipfel, hinter dem
sich ebenfalls etwas zusammenzubrauen schien. Die feuchte Luft aus dem
Mittelmeertief hatte ein unvorhergesehenes Eigenleben entwickelt.
Die merkwürdig bläulichen und grünlichen Wolken, zwischen denen
sogar ab und zu eine schwache Sonne hindurchschimmerte, reflektierten
gespenstisch vom Eis. Mauracher blieb stehen, der Steigungswinkel, das Eis-Schnee-Gemisch
auf dem Gletscher, der heftige Wind und ihre innere Unruhe machten sie mürbe.
Vor die Berge westlich von Vermiglio legte sich ein dünner Schleier. Dort
regnete es bereits. Sie ging weiter, versuchte schneller zu gehen. Sie war
kurzatmig, vermutlich setzte ihr die dünnere Luft zu, sie war lange nicht mehr
in dieser Höhe gewesen.
Mehrmals musste sie kleineren Spalten ausweichen, die durch den Wind
sichtbar freigelegt waren. Das kostete Zeit und Kraft. Seit der Hütte war sie
inzwischen schon länger unterwegs als auf dem gesamten Hinweg. Steil ragte die
Nordflanke der Presanella vor ihr auf, der Fels schimmerte an einigen Stellen
dunkel durch den Schnee. Normalerweise wäre das eine schöne Wand gewesen, um
sie auf Zeit zu erklimmen. In diesem Augenblick ging nichts als Bedrohung von
ihr aus.
Plötzlich wurde die Wand für den Bruchteil einer Sekunde hell
erleuchtet. Einige Sekunden Stille, dann folgten ein ohrenbetäubender
Donnerschlag und die ersten Sturmböen. Tatsächlich hatte sich hinter der Presanella
ein weiteres Gewitter aufgetürmt, das sich nun anschickte, über den Gipfel nach
Norden auszugreifen.
Warum tat sie etwas dermaßen Bescheuertes? War sie lebensmüde? Als
ob sie auch nur den Hauch einer Chance hätte, diese Gianna zu finden. Der
nächste Blitz, unmittelbar gefolgt von zwei weiteren. Grelles Licht, dazwischen
Dunkelheit wie in der Abenddämmerung. Ein lauter Knall, direkt über ihrem Kopf,
eine weitere explosionsartige Entladung. Der Wind fegte jetzt in Sturmstärke
über das Eis. Erste dicke, schwere Schneeflocken und Eiskörner prasselten vom
Himmel, grellweiß vor dem Schwarz der Wolken.
Westlich des Gipfels tauchte unvermittelt eine tiefhängende schwarze
Wolkenfront auf, die auf den Gletscher herabsank und direkt auf Mauracher
zukam. Unaufhörlich erleuchteten grelle Blitze die bedrohliche, dunkle
Wolkenmasse. Eis und Schnee fegten nun fast waagerecht über den Gletscher,
immer mehr Blitze, auf die sofort der Donnerschlag folgte. Es war, als hätte
der Himmel eine vernichtende Armee geschickt. Auf diesem verfluchten Eisfeld
gab es keinen Schutz.
Mauracher setzte
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