Eiszeit in Bozen
nicht anders sein.
Was für ein abstruser Gedanke, innerhalb einer Zehntelsekunde ein
Menschenleben auszulöschen. Ein Leben, das noch vierzig oder fünfzig Jahre
dauern könnte.
»Commissario, wir sind so weit«, hörte Vincenzo Baroncini aus der
Ferne sagen. Er drehte sich langsam um. Baroncini sprach weiter: »Das ist doch
absoluter Wahnsinn. Ich sage es Ihnen: Gianna lebt nicht mehr. Wenn doch, dann
ist heute trotzdem ihr letzter Tag. Entweder Oberrautner tötet sie, oder das
Wetter macht es für ihn. Sie müssen nur mal nach oben schauen.«
Vincenzo ging langsam auf die Bank zu. Sein Vorgesetzter hatte die
Befehlsgewalt, er hätte ihm die Waffe abnehmen können. Er hätte auch den Capo
della Polizia informieren, ein Sondereinsatzkommando anfordern, sämtliche
Einsatzkräfte nach Lana beordern können. Aber er war weise und weitsichtig
genug zu wissen, dass das nichts bringen würde. Außerdem konnte er ahnen, was
in Vincenzo vor sich ging.
Vincenzo blickte sich verstohlen nach allen Seiten um. Wo steckte
das Schwein? Er konnte Oberrautner nirgends entdecken, offenbar hatte er sich
vollständig in den Dreck hineingewühlt. Aber er witterte seine Anwesenheit. Die
Gedanken rasten durch seinen Kopf, es war, als suchte sein Gehirn selbsttätig
nach einem Ausweg aus dieser ausweglosen Situation.
Wie schnell die Zeit vergangen war seit dem Morgen, als er sein
Todesurteil gelesen hatte. Zwanzig Minuten bis zum Unausweichlichen. Wenn
Baroncini recht hatte? Wenn es zu spät war, wenn Gianna nicht mehr lebte? Auch
sein Leben wäre dann vorbei, aber er könnte wenigstens Oberrautner jagen. Doch
es war vielleicht besser, Marzoli übernahm das, Vincenzo würde ihn nicht lebend
davonkommen lassen, er würde ihn massakrieren. Oder irrte sich Baroncini? Lebte
Gianna, hielt Oberrautner Wort? Niemand kannte die Antwort.
Noch eine Viertelstunde. Vincenzo öffnete das Halfter, zog seine
Waffe heraus, um sie zu prüfen. In diesem Moment musste er an seine Eltern
denken. Was immer gleich geschah, das Leben aller Beteiligten wäre zerstört.
Antonia und Piero würden zeitlebens unglücklich sein, wahrscheinlich würden sie
die Trattoria aufgeben. Gianna wäre ebenfalls am Ende. Opfer einer Entführung,
gefangen gehalten an einem eisigen Ort. Wenn nicht schon die Gefangenschaft ein
psychisches Wrack aus ihr gemacht hatte, müsste sie, falls sie überhaupt jemals
zurückkehrte, erfahren, dass ihr schöner Kommissar sich erschossen hatte, um
sie zu retten. Ob sie das je verwinden würde? Oder würde sie in der Psychiatrie
landen? Auch ihre Eltern waren dann wohl nicht mehr dieselben. Was wäre
schlimmer für sie, dass ihre Tochter Opfer eines Geisteskranken wurde oder dass
sie nach ihrer Freilassung nur noch dahinvegetierte, eine leblose Hülle mit
zerstörter Seele?
Zwölf Uhr einundfünfzig, der Sekundenzeiger schien zu rasen. Als
Vincenzo sich setzen wollte, nahm er aus dem Augenwinkel eine leichte Bewegung
wahr. In den Weinbergen am Hang, ungefähr vierzig Meter entfernt. War das
Oberrautner? Er blickte angestrengt in die Richtung, doch da war nichts. Er
sank auf die Bank, entsicherte seine Waffe. Sie war geladen mit einem vollen
Magazin, fünfzehn Schuss.
Marzoli brach unvermittelt in Tränen aus. Er rannte zur Bank, nahm
Vincenzo in den Arm, sagte immer wieder »Tu es nicht, tu es nicht«. Vincenzo
schob ihn sanft zurück, lächelte ihn traurig an. Obwohl er keine zehn Minuten
mehr hatte, wusste er nicht, was er nach Ablauf dieser Zeit machen würde.
***
Presanellagletscher, 12.55 Uhr
Sabine Mauracher war bis zum Gletscher gut vorangekommen.
Ihr Koordinationsvermögen war gut geschult, es machte ihr keine Probleme, sich
auf dem vereisten Weg zu bewegen wie auf einer harmlosen Asphaltstrecke im
Sommer. Sie schaute über die Fläche, die steil vor ihr emporragte. Riesige
Querspalten durchzogen das Eis, einige von ihnen so gewaltig, dass selbst die
heftigen Schneefälle der vergangenen Woche sie nicht zugeweht hatten. Zweifel
beschlichen sie. Ein solcher Gletscher, steil, zerklüftet, arbeitete ständig
auf Hochtouren. Wie sollten da drin alte Kriegsstellungen fast hundert Jahre
lang erhalten bleiben? Inzwischen musste doch alles regelrecht zermalmt worden
sein.
Wenn sie wüsste, was für eine abartige Aufgabe dieser Irre dem armen
Commissario aufgetragen hatte, könnte sie vielleicht einschätzen, wie viel Zeit
ihr noch blieb. Hoffentlich hatte sie Handyempfang, wenn sie weiter oben war.
Sie nahm die Gletscherbrille ab.
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